Andrea – Liebe ist nicht heilbar.. V. A. Swamp
ich, dass der Name auf ein Buch eines Schriftstellers namens „Peter Bamm“ (über den weiß ich bis heute nichts) zurückging, der mit der Laterne die „Kulissen dieser Welt beleuchten“ wollte. Solche Aphorismen fanden wir damals toll, weil wir glaubten, damit unseren Intellekt öffentlich zur Schau tragen zu können.
Ich war im Übrigen bereits mit einer Kreuzberger Künstlerkneipe bestens versorgt. Meine Lieblingskneipe war der „Leierkasten“. Der war eine echte Berliner Bohème-Kneipe. Als ich Mitte der sechziger Jahre nach Berlin kam, ich hatte vor der Bundeswehr Reißaus genommen, hatten Kurt Mühlenhaupt und sein Bruder Willi diese Kneipe übernommen. Die beiden haben den Leierkasten dann zu einem beliebten Treffpunkt der Berliner Künstlerszene entwickelt. Hätten sie ein Gästebuch geführt, was sie selbstverständlich als spießig abgelehnt hätten, dann wären darin Namen wie Günter Grass, Artur Märchen, Wolfdietrich Schnurre oder Friedrich Schröder-Sonnenstern aufgetaucht. Das Ambiente der Kneipe machten aber nicht die berühmten Namen, ich habe nie einen von diesen großen Künstlern dort gesehen, sondern die Protagonisten des Hauses aus. Charakteristisch war, dass sie alle mit gänzlich unpoetischen Beinamen versehen waren. Diese galten unter den Eingeweihten wie hohe Auszeichnungen, man trug sie mit Stolz, obwohl ich nie verstanden habe, warum: FotzenCharly, SchrottJochen, IdiotenHarry, SalmonellenBert, PornoUwe … Kaum einer der Stammgäste kam ohne Beinamen davon. Lediglich der Wirt Kurt Mühlenhaupt, der sich übrigens zugleich als Trödler und Maler betätigte, erhielt keinen solchen despektierlichen Beinamen. Wer von ihm anerkannt und geschätzt wurde, durfte ihn „Kurtchen“ nennen. Ich durfte das nicht.
Der Leierkasten war keine typische Berliner Säuferkneipe, obwohl hier wahrscheinlich mehr gesoffen wurde, als sonst irgendwo in der Stadt. Während vorne in der Kneipe kräftig gezecht wurde, sollen im Hinterzimmer richtige Kunstwerke wie zum Beispiel die „Biertrinkerblätter aus dem Leierkasten“ entstanden sein. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Gesehen habe ich solche Kunstwerke jedenfalls nicht. Für gelegentlich Auftritte irgendwelcher Musikgruppen verfügte der Leierkasten sogar über eine kleine Bühne. Ich erinnere mich genau, dass der Boden vor der Bühne so ekelhaft klebrig von verschütteten Getränken war, dass ich mit meinen Kreppsohlen, die waren damals voll im Trend, immer in Gefahr stand, dort für immer kleben zu bleiben. Ich schwöre, ich habe die Geschichte selbst gehört: der Schlagzeuger der White Eagle Band hat sich bei Kurtchen beschwert, dass sein Schlagzeug nicht mehr richtig funktionieren würde, weil die Pedalen von Hi-Hat und Bass Drum verklebt waren… Überhaupt, an den Schmutz in dieser Kneipe erinnere ich mich noch ganz genau. Obwohl ich damals schon ein geübter Sitzpinkler war, das hatte mir meine Mutter eingetrichtert, habe ich mich nie auf den versifften Toilettendeckel setzen können!
Wir landeten also an jenem Abend in der „Kleinen Weltlaterne“. Ich war ein wenig enttäuscht, denn hier war wenig von der Bohème-Atmosphäre eines „Leierkastens“ zu spüren. Eigentlich war es eine typische Berliner Kneipe ohne viel Flair. Nur die vielen Bilder an den Wänden und selbst hinter dem Tresen demonstrierten, dass hier wohl auch Künstlern zu den Gästen zählten. Richtig faszinierend war allerdings die Wirtin, eine hochgewachsene Frau mit einem riesigen Busen, einem freundlichen Blick und einem sächsischen Akzent. Hertha Fiedler war wohl schon damals eine Institution in der Westberliner Szene. Ich fand die Kneipe ganz o.k., bis Kellner Tadeusz auftrat. Ich schreibe das ganz bewusst „auftrat“, denn er schien die Kneipe mit der Bühne eines Schmierentheaters zu verwechseln. Was dieser Typ an Dreistigkeit gegenüber seinen Gästen, oder besser gesagt gegenüber seinem Publikum, aufbot, das war schon starker Tobak. Während man bei Lucie Leydicke immer noch eine Spur Herz und Freundlichkeit entdecken konnte, war Kellner Tadeusz in meinen Augen, na man soll über Tote nichts Schlechtes berichten. Nur mit Mühe konnten an diesem Abend einige Stammgäste verhindern, dass Tadeusz mit seinem berüchtigten Striptease begann, bei dem er seinen Bierbauch wie eine Bauchtänzerin kreisen ließ. Das Irre war, dass sich niemand an Tadeusz zu stören schien. Im Gegenteil, die Gäste quietschten vor Vergnügen über seine groben Scherze, was ich schon sehr eigentümlich fand.
Andrea und ich hatten bis zu diesem Moment kein einziges Wort miteinander gewechselt. Ich fand die Atmosphäre in dieser Kneipe eher befremdlich, sodass ich nach einem passenden Absprung aus diesem absurden Theater suchte. Die Gelegenheit war günstig, da bislang niemand eine Bestellung aufgenommen oder sich sonst um uns gekümmert hatte. Plötzlich fühlte ich Andreas zarte Hand, sie hatte unglaublich lange und feingliedrige Finger, auf meinem Oberschenkel und sie raunte mir, soweit das bei der in diesem Lokal herrschenden infernalischen Lautstärke überhaupt möglich war, ins Ohr:
»Komm, lass uns gehen!«
Für einen Moment begriff ich nicht, was hier geschah, aber ich folgte brav ihrem Vorschlag, und Andrea und ich verließen diesen merkwürdigen Ort. Andrea hatte sich nicht die Mühe gegeben, sich von ihren Begleitern zu verabschieden. Es waren auch, wie sich später herausstellte, keine intimen Freunde, sondern Kommilitonen aus ihrem Semester. Ich fragte sie, ob sie noch woanders etwas trinken wolle, aber sie schüttelte den Kopf.
»Wohnst Du hier in Kreuzberg?«
Meine Wohnung, oder besser gesagt, meine Behausung, im zweiten Hinterhof einer Kreuzberger Mietskaserne, war nicht allzu weit von der „Kleinen Weltlaterne“ entfernt. Ich war nie, auch damals nicht, ein Freund von „One-Night-Stands“. Insofern passte ich nur bedingt in die Westberliner Szene, wo bereits 14-Jährige mit dem Sex begannen und überhaupt wild durcheinander gevögelt wurde. Ich war der Provinzler und der altmodische Typ, der zunächst liebevolle warme Zuneigung, elektrisierende Berührungen, Geruchs- und Geschmackserlebnisse und so ein Zeug braucht, um ein Mädchen zu begehren. Andrea war das Instant-Mädchen, das sämtliche Voraussetzungen mitbrachte, in komprimierter Form. Wir brauchten keine lange Vorbereitungszeit, um zu erkennen, dass alle Voraussetzungen für eine perfekte Liebesnacht erfüllt waren. Es knallte in dieser Nacht so heftig, dass ich danach jeden Gedanken darauf verwandte, Andrea für immer und ewig an mich zu binden.
Andrea lebte damals noch bei ihrer Mutter. Genauer gesagt, in der Wohnung lebten sie zu dritt, denn es gab da auch noch eine Großmutter, ein fürchterlicher Drachen, der aus seiner Abneigung mir gegenüber keinerlei Hehl machte. Andreas Vater hatte sich bereits nach drei Ehejahren verpisst, da war Andrea gerade einmal zwei Jahre alt. Andrea mochte ihren Vater mehr als ihre Mutter. Allerdings hatte ihr Vater mit seinen zahlreichen Frauen, er war glaube ich insgesamt sieben Mal verheiratet und jedes Mal war ein Kind dazu gekommen, so viel zu tun, dass er für Andrea nur wenig Zeit erübrigen konnte. Wie dem auch sei, Andrea fand es in Kreuzberg und bei mir sehr gemütlich und nach und nach schaffte sie alles, was sie so zum Leben brauchte, in meine Wohnung, was schon angesichts der Größe oder besser gesagt der Kleinheit der Wohnung eine Meisterleistung war. Wir entdeckten ziemlich schnell, dass wir viele identische Vorlieben hatten, was Kneipen, Literatur, Kino, Theater und natürlich Sex anging.
Andrea war das unkomplizierteste Wesen, das ich je kennenlernen durfte. Sie hatte bereits mit 13 ihren ersten festen Freund und die beiden hatten ernsthaft überlegt, nach Gretna Green auszubüchsen. Dort in Schottland durften damals Jungen mit 14 und Mädchen mit 12 Jahren eine Ehe ohne elterliche Zustimmung schließen. Das war schon ziemlich abgefahren. Im Vergleich zu Andrea bin ich ein Spätzünder gewesen, auf solche Ideen wäre ich als Jugendlicher nie gekommen. Ihr Vater hatte allerdings von der Sache Wind bekommen und seine Tochter daran gehindert, den ersten großen Fehler in ihrem noch jungen Leben zu begehen. Wir verbrachten damals eine tolle Zeit auf dem Kreuzberger Trampelpfad zwischen „Leydicke“, der „Nulpe“, dem „Yorck-Schlösschen“, wo man fröhlichen Blues und Cordhosen-Jazz genießen konnte, dem „Delirium“, der „Kleinen Weltlaterne“, dem „Leierkasten“ und wie diese Treffs der Säufer- und Künstlerszene, was durchaus kein Widerspruch war, geheißen haben mögen. Wenn Andrea und ich von Kreuzberg genug hatten, gingen wir ins zivilisierte Wilmersdorf und dort vorzugsweise in die Galerie Bremer am Fasanenplatz. Galerie klingt nach Bildern, Skulpturen, Ausstellungen und so weiter. Das ist im Prinzip auch richtig, auch wenn wir nicht in erster Linie deswegen dorthin gingen. Hinter den Ausstellungsräumen der Galerie hatte der Architekt Hans Scharoun eine kleine, aber sehr gemütliche Bar eingerichtet. Zugegeben, ich wusste damals nur wenig über den Architekten Scharoun außer, dass wir ihm in Berlin die „Philharmonie“ zu verdanken hatten, aber die Bar in der Galerie Bremer