Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz
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Helmut H. Schulz
Die Legenden des Karl Kirchhoff
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Inhaltsverzeichnis
2. Nicht für die Schule lernen wir
3 Politik ist ein schmutziges Geschäft
4. Handwerk hat goldenen Boden
5. Wer das Glück hat, dem kalbt ein Ochse
6. Was drei wissen, erfahren hundert
7. Krieg kommt von Mein und Dein
8. Wer Fleisch essen will, muss es mit dem Schlächter halten
9. Was im Mai blüht, reift im Oktober
10. Wie man sich bettet, so liegt man
12. Wer gut schmiert, der gut fährt
13. Schlachte nicht mehr als du salzen kannst
14. Fallen ist keine Schande - aber lange liegen
17 Jung gefreit hat nie gereut
1. Bier muss immer laufen
Dies ist die Geschichte Karls, der geboren wurde an einem grauen Aprilmontag in der Inselstraße, im Herzen der Stadt Berlin. Sein Eintritt in die Welt war durch das bemerkenswerte Ungeschick gekennzeichnet, eine erste Chance verpasst zu haben. Wenn er sich etwas beeilt hätte, wäre er ein Sonntagskind geworden, und Sonntagskinder, sagt man, sind Auserwählte des Glücks. Was aber kann man als Montagskind schon von der Welt erwarten? Die Welt - das ist das aufgeregt brodelnde Berlin von 1925 -, eine fiebernde, überhitzte Großstadt schreiender Gegensätze, ein Organismus, dessen Puls im ersten Morgengrauen schon zu schlagen beginnt, heftig, unregelmäßig, während man einem Tagewerk nachjagt durch die regennassen Aprilstraßen, eine Stadt, die Krieg, Revolution und Inflation gerade überstanden hat, Rekonvaleszent an einem Tisch, der auf eine wunderbare Weise wieder gedeckt wird. Diese Zeit soll in die Geschichte eingehen als die Goldenen Zwanzigerjahre.
Also muss es ein Glück gewesen sein, in diese Welt zu kommen, in der die Rentenmark täglich an Wert gewinnt, in der die kleinen Leute endlich ihr Scherflein nach Hause tragen, und die großen natürlich ungleich mehr. Aus dem unruhigen Schoß der Nation aber quellen die neuen, barbarischen Regimenter, ihre genagelten Stiefel treten den Asphalt, als gelte es, einen langen Marsch zu proben.
Nachts ist die Stadt ein einziges riesiges Angebot, eine Mischung aus Geschäft, Vergnügen, Spaß. Die Stadt kennt keine Ruhe, sie schläft stundenweise einen Erschöpfungsschlaf, gleichsam nebenher. In Karls ersten Schrei mischte sich die Regentrommel auf dem Fensterzink.
Eine Kochstube ist kein Palast, sie ist weniger als eine Wohnung. In einer Kochstube wird gewohnt, gekocht, gegessen, geschlafen. Sie ist eine grandiose Erfindung - ihr Schöpfer muss ein Menschenfreund und ein großer Geschäftsmann gewesen sein.
Für den kleinen Karl ist die Kochstube die Welt, und der Blick durch das altmodische Rundbogenfenster auf die Inselstraße mit dem Denkmal Schultze-Delitzschs gehört dazu. Da ist die Mutter, Gertie Kirchhoff, auf deren Schoß man liegen, stehen, sitzen oder reiten kann, eine höchst angenehme Einrichtung. Das Wort Mutter oder Mama lernt man zuerst, und man vergisst es zuletzt. Sie ist eine freundliche Frau, ihre Gefühle übertragen sich leicht: lacht sie, ist man versucht, es nachzutun; weint sie, dann dauert es nicht lange, und das eigene Gesicht krampft sich zusammen; ist sie ängstlich, spürt man ein bedrückendes Gefühl. Der Vater, Hermann Kirchhoff, ist schon etwas entfernter, zumal, wenn er liest. Eine weitere Quelle der Freundlichkeit ist die Hoffnung auf Bonbons etwa oder auf einen Spaziergang. Die dritte Person ist die Schwester Renate, und sie ist schon mehr ein Ärgernis. Mit ihr ist man den ganzen Tag zusammen, sie verkörpert handgreiflich die Gewalt, wenn Mutter und Vater irgendwo draußen arbeiten. Unter Arbeit kann man sich nichts vorstellen.
All das wird eines Tages durch die Entdeckung der Straße verdrängt. Rechts vom Hauseingang ist eine Kneipe, sie gehört Onkel Hannemann. Zwischen ihm und Karl spinnt sich eine Art Grußbekanntschaft an. Ihm gehört das Haus, in dem sie wohnen.
„Wie gehört, Rena?“
„Das verstehst du noch nicht", sagt die Schwester. Es ist wahr, man versteht noch sehr wenig.
„Du darfst niemals in die Kneipe gehen", sagt die Schwester.
Karl hatte nie die Absicht gehabt, den augenzwinkernden Wirt zu besuchen, nun allerdings, nach ihrem mahnenden Hinweis, wird er gelegentlich hineinsehen müssen. Links neben dem Hauseingang ist ein Gemüsegeschäft, und dann reckt sich das Haus, in dem man wohnt, bis in den Himmel, Fenster reiht sich an Fenster. Die Welt ist groß. –
Das Schönste sind die Sonntage. Der Vater redet mit Renate, zeigt ihr Bücher und Bilder, streicht Karl zwischendurch über den Kopf, die Augen hinter seiner Brille sind sanft, Renate liegt ihm halb auf der Schulter. Die Mutter hantiert mit Töpfen und Tellern, es riecht angenehm, und von seinem Stuhl aus ist man immer im Bilde, was sich vorbereitet. Nachts liegt Karl neben der Schwester im Bett, weil nur zwei Betten aufgestellt werden können, schlingt den Arm um ihren Hals und atmet in ihr Haar, langes, weiches Haar, das kitzelt. „Kleiner Klammeraffe“, sagt die Schwester zärtlich. Man flüstert und kichert noch etwas, bis die Mutter energisch Ruhe gebietet.
Bald auch kann Karl sich mit Renate vernünftig unterhalten. Sie ist doch kein Ärgernis. Sie wäscht einem das Gesicht, hat immer ein zärtliches Verlangen nach Küssen.
Der Vater ist ein Konfektionär, die Schwester erklärt: „Er verkauft in einem großen Geschäft Anzüge und Mäntel.“
Und dann hört man, er sei arbeitslos geworden. Was bedeutet das? Eindeutig etwas Gutes. Der Vater ist nun immer zu Hause. Welch ein Glück, diesen freundlichen Mann ganz für sich zu haben, der liest und vorliest, Zigaretten raucht, Teller wäscht, Essen kocht, spazieren geht. Nur lacht er nicht mehr so oft wie früher. Warum? -
Karl