Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz
durch einige saftige Brocken, er erfährt von „Nutten in den Kochstuben“ und von der „Sitte“, die mal wieder überfällig sei. Währenddessen fahren Autos durch die Inselstraße, Lastwagen mit Leuten in braunen Uniformen mit heruntergezogenen Mützenriemen und klingenden Liedern.
„Na, leicht habt ihr's wohl jetzt ooch nich“, sagt Onkel Hannemann, und Karl nickt und geht nach oben in dem Bewusstsein, dass man es nicht leicht habe. Es ist nicht alles klar an dieser Welt, man scheint in eine immer größer werdende Verwirrung hineinzuwachsen. Karl blickt in das fünfte Licht auf dem Geburtstagskuchen, sieht die zuckenden, warmen, lebendigen Flammen, schaut in dieses goldene weiche Flackern und möchte danach greifen, die Flammen fangen, in den Händen festhalten. Aber so viel hat er doch schon gelernt: Wer nach dem Feuer greift, verbrennt sich.
Morgen, heißt es dann noch, morgen gehen wir zum Großvater.
Die Familie war zerstritten. Der alte Herr Schuster, Karls Großvater, und Herrmann, Karls Vater, konnten einander nicht ausstehen. Gertie, die Mutter, aber ging in die „Friedliche Einkehr" und half in er Küche. Karl kannte seine Großeltern noch nicht. Nun aber hatte der Großvater gewünscht, den Enkel kennenzulernen, und die Eltern berieten und entschieden, man könne diesen Wunsch des Großvaters verstehen. Ein wenig Stolz, einen gerade gewachsenen Sohn vorzeigen zu können, war auch dabei.
Für Karl war die Reise mit der Straßenbahn vom Spittelmarkt nach Steglitz ungeheuer weit. Wenigstens die halbe Welt mussten sie durcheilt haben, ehe sie beide vor der Tür der Gaststätte standen, unter dem Schild: Friedliche Einkehr. Inhaber Wilhelm Schuster. Weine, div. Liköre, gepflegte Biere, kalte und warme Speisen. Die Mutter holte tief Atem. Karl sah sie an. Warum zögerte sie? Da wurde von innen die Tür aufgerissen, und drei schluchzende Frauen umgaben ihn wie ein feuchter Flor; die Mutter weinte nun auch.
„Das ist deine Oma Karl“, sagte sie und schob ihn der älteren, gutmütig dreinschauenden Frau zu. Die Oma schloss ihn in die Arme und küsste ihn. Dann küsste ihn auch die Tante Friedel.
„Mein Enkelchen“, sagte die Oma gerührt. Damit nahm sie Karl sofort für sich ein. Sie gingen in die Gaststube.
„Möchtest du was essen?“, fragte die Oma etwas hilflos.
„Er hat eben gegessen“, sagte die Mutter schnell. Es sollte nicht heißen, die Eltern bekämen ihre Kinder nicht satt. Karl sah sich um. In einer Vitrine lagen verlockend appetitlich angerichtete Würste und Würstchen, die er gern gekostet hätte…
„Na, dann gehen wir nach hinten. Das ist ja nun wirklich nichts für die Gaststube“
Das hat sie vergessen mit dem Essen, dachte Karl, oder sie hat es nur so und nicht ganz ernst gemeint. Sie gingen in die Küche, und die Oma stellte ihn allen möglichen Menschen vor, Lieferanten, Kellnern und Abwaschfrauen, bis von hinten eine Stimme knarrte: „Sind sie da?"
Die Frauen zuckten zusammen, ihre Erregung übertrug sich sogar auf Karl.
„Der Alte“, sagte die Oma. Auf diese Bemerkung setzte sich alles in Bewegung, was zur Familie gehörte. Karl stand vor dem Opa und gab ihm unbefangen die Hand.
Der Opa hielt dem Jungen zwei Finger hin. Die Frauen wagten kaum zu atmen. Würde der Opa in Karl sein eigenes Fleisch und Blut erkennen? Der Alte massierte seinen Bauch, der über die Hose quoll und musterte Karl gründlich.
„Er hat dieselben Augen wie ich, was Anna? “
„Jaja“, sagte die Oma schnell, „dieselben Augen, Wilhelm. Es ist uns gleich aufgefallen.“
Der Opa zog die Brauen zusammen. Es missfiel ihm, dass sie eine Entdeckung gemacht haben wollten, die nur ihm zustand, dem Chef; Tante Friedel kicherte. Der Opa fand das unpassend.
„Geh an deine Arbeit!“, sagte er zu der Tante. „Und auch ihr anderen braucht hier nicht herumzustehen. Euer Platz ist in der Küche. Ihr kostet schon genug Geld.“
Das war die Strafe. Der Junge wusste noch nichts von der Macht, die dort auf dem Stuhl thronte und über die Gaststätte, einige Mietshäuser und ein ansehnliches Bankkonto gebot. Für ihn war das, was sich da spreizte, der Großvater, wie alle Kinder einen hatten, ein freundlicher alter Mann.
Nur die Oma blieb. Sie genoss offenbar Sonderrechte. Der Opa stand auf und trat an eine Kommode. Er untersuchte die Zigarren, die dort lagen, und entschied sich schließlich für eine lange dünne von fast schwarzer Farbe.
Karl besaß Sinn für Autorität. Dieser Opa schien eine Macht zu sein, sogar eine größere Macht als Onkel Hannemann, dem doch das Haus gehörte, in dem sie wohnten. Dem Opa wagten die Frauen nicht zu widersprechen. Sie gingen still in die Küche, wenn er ihnen das in ruhigem Ton gebot. Diesen Gehorsam kannte Hannemann nicht. Mit dem zankte sich das halbe Haus herum.
Karls Hochachtung für den Opa wuchs. Seine Gestalt war aber auch imponierend. Karl setzte sich auf die Ecke eines Sofas und sah sich um. Große, schwere Möbel füllten die Wände. Zwei Ölbilder in dicken goldenen Rahmen zeigten Hirsche, denen eine weiße Wolke aus der Nase kam, als ob sie rauchten. Der Alte ließ sich schwer stöhnend, als hätte er eine gewaltige Arbeit verrichtet, in einen Sessel fallen. Die Zigarre brannte nun ordentlich, und er war bereit, dieses merkwürdige Kind genauer zu betrachten. Er gestand sich ein, dass es ihm nicht ungelegen kam, den kleinen Burschen sympathisch zu finden. Kräftig schien er zu sein. Der Vater war am Ende unwichtig. Der Enkel gehörte der Familie, und auf Familienbesitz gab man acht. Es wäre ein schwerer Fehler gewesen, diesen hoffnungsvollen Spross allein dem Vater zu überlassen. Kinder konnte man nicht so ohne weiteres einkaufen wie Hammel oder Kühe. Der Vater war ein Spinner. Ihm konnte man das Geschäft der Erziehung nicht allein anvertrauen, zumal Karl ihm, dem Großvater, ganz eindeutig ähnlich sah. Das hatten selbst die Frauen gesehen, denen man in solchen Fragen schon mal ein Urteil zutrauen konnte, Der Opa entschloss sich, den Gegenstand dieser Darlegungen auf seine Qualität hin zu prüfen.
„Kennst du schon die Uhr? “ fragte er.
„Ja, die Uhr kenn ich“, sagte Karl. Da nun einmal die Rede auf Können und Nichtkönnen kam, gab Karl zu bedenken: „Ich bin auch schon groß für mein Alter.“
Der Opa betrachtete ihn abschätzend und gab ihm recht. Die Oma lächelte still. Der Opa hatte nicht viel Ahnung, wie groß ein Sechsjähriger sein musste, aber auf der Suche nach Vorzügen bei dem Enkel fiel dessen Größe am ehesten ins Auge. Die Oma enthielt sich klüglich jeder Bemerkung.
„Du wirst jetzt bei uns leben“, sagte der Alte. „Und dich nützlich machen“, fügte er hinzu. Nach einer kleinen Pause sagte er sinnend: „Wir müssen alle arbeiten.“
Karl lauschte hinaus. Aus der Küche kamen Geräusche, die er richtig als Arbeit deutete. Die machten sich nützlich, die arbeiteten. Es leuchtete ihm übrigens ein. Man arbeitete, um zu leben. Das hatte er oft genug gehört. Er nickte und besann sich auf schon Erlerntes.
„Ich kann Renate schon beim Geschirrspülen helfen“, bemerkte er, aber das beeindruckte den Opa keineswegs.
„Du wirst nach und nach alles lernen. Als ich so alt war wie du, bin ich schon mit aufs Feld gegangen. Von früh bis spät habe ich gearbeitet. Na, da hast du es besser.“
Karl sah ihn an, dankbar, dass er nicht mit aufs Feld musste. Der Opa war sicher gut. Karl rutschte aus seiner Sofaecke und ging zu dem Opa hin. Der Alte schnüffelte den Duft der Unschuld ein. Seltsame Gefühle befielen ihn, über die er selbst erstaunt war, als sich der Kleine auf seine Knie lehnte und ihn starr ansah. Für seine eigenen Kinder hatte er weniger Geduld aufgebracht. Karl zog die Hand aus der Tasche. Er hielt die ganze Zeit einen Gummilutscher umklammert. Nun war er entschlossen, sich davon zu trennen, um diesem riesenhaften Mann einen Gefallen zu tun.
„Da, nimm ihn“, sagte er und versuchte ihn dem Alten zwischen die Zähne zu schieben. Der wehrte ab, aber in seinem Fleischerherzen entstand ein Gefühlsschaden.
Er schnaufte gerührt: „Lass nur, mein Kind. Iss ihn man selbst. Opa raucht doch eine Zigarre.“ Und übermannt von soviel Menschlichkeit an einem Vormittag, stieg ihm eine Träne ins Auge.
„Was