Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz

Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz


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ist entschieden: Jeder Junge muss in die Schule gehen. Das ist nützlich und gut für ihn. Er soll etwas lernen.

      „Geh in die Schule und lerne was, und wenn du was gelernt hast, dann kommst du und erzählst mir das“, sagt Rena auf. Sie sagt es ein dutzendmal am Tag, so oft man will. Sie kennt die Schule, sie ist einem in dieser Frage näher als der Vater oder die Mutter, deren Schulzeit weit zurückliegt, die alles schon können. Aber auch Renates Auskünfte sind rasch und ungeduldig. Die Gedanken schleichen um dieses Ereignis wie Räuber um ein verschlossenes Haus, sie finden keine Tür, und es wäre doch so wichtig, vorher etwas über die Schule zu erfahren, die bis jetzt nichts anderes ist als ein großes rotes Gebäude, durch dessen Tor morgens die Kinder gehen, um etwas zu lernen.

      Weil Arbeitslose viel Zeit haben, und weil ein ordentlicher Vater seinen Sohn in die Schule bringt, nimmt der Vater Karl eines Tages bei der Hand und geht in das große rote Haus bis in das Zimmer des Rektors. Der Rektor hat einen weißen Bart und einen milden Gesichtsausdruck. Karl kennt niemanden, der einen weißen Bart hat. Der Vater nennt den Grund ihres Hierseins, er wolle seinen Sohn anmelden, weil der eben sechs geworden sei, und kurz und gut, dort stehe er. Die Augen des Rektors sehen Karl an, ein verstecktes Lächeln sitzt in einem Winkel dieser Augen.

      „Nun“, sagt der Rektor, „das ist also der Karl. Dann gib mir mal die Hand!“

      Tiefgreifendes Erlebnis, die Hand dieses freundlichen weißbärtigen Mannes zu schütteln.

      „Sie sind arbeitslos?" fragt der Rektor teilnehmend den Vater.

      Der bestätigt das. Er legt seine Meinung dar, die der Sohn schon öfter gehört hat und übrigens nicht begreift. Der Rektor schüttelt den Kopf und sagt: „Lieber Herr Kirchhoff, so kommen wir auch nicht weiter. Mit diesen radikalen Lösungen fahren wir nicht gut.“

      Der Vater sagt, er habe nicht die Absicht, den Rektor zu seinen politischen Überzeugungen zu bekehren, sondern er sei hier, um seinen Sohn für die Schule anzumelden. Darauf nickt der Rektor, erfreut, wie es scheint. Dann geben sich wieder alle die Hände, Rektor und Karl, und nun können sie gehen. Der Vater bleibt im Hinausgehen noch einmal stehen, zeigt auf ein kleines gerahmtes Schild und liest ab: „Weil ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.“

      Der Rektor hüstelt verlegen. „Das ist so eine Redensart.“

      Aber Vaters Stimme klingt jetzt fast böse, als er sagt: „Ein Lehrer sollte meiner Meinung nach immer ein Menschenfreund sein, finden Sie nicht auch?“

      Der Rektor antwortet nicht. Die beiden werden sich gleich streiten, das liegt in der Luft, und der Vater hat recht. Der hat immer recht, er ist klüger als die Mutter, als Rena selbstverständlich, die er wie eine Erwachsene behandelt, nach Auffassung der Mutter, er ist klüger als der Opa, und er bringt auch den Rektor mit dem langen weißen Bart in Bedrängnis, denn der sagt nun ziemlich ärgerlich: „Machen Sie doch aus einer Mücke keinen Elefanten, Herr Kirchhoff. So werden wir keine Freunde. Dieser Spruch will ja nur ausdrücken, dass ich ein Tierfreund bin, mehr nicht. Wenn Sie daraus Schlüsse ziehen, dann müsste ich ja auch aus Ihren Äußerungen vorhin, die ich anarchistisch finde, welche ableiten. Das führt doch zu nichts.“

      Der Vater lächelt, lächelt auf seine überlegene Weise. Er hat den Rektor offensichtlich aus dem Felde geschlagen. Und der merkt so etwas, er sagt nämlich: „Dann nehmen Sie doch einen Hauslehrer, Herr Kirchhoff.“

      So trennt man sich wieder, steht auf der Straße, der Vater zündet sich im Gehen eine Zigarette an, eine Schwarz-Weiß, man marschiert durch den Köllnischen Park und ist froh. Dieser Weißbart hat einem die Hand gegeben. Er ist der Rektor der großen roten Schule. Die Ordnung ist erhalten geblieben. Der Vater erwies sich als der Überlegene, auch dem Rektor gegenüber. Der Vater muss ein großer Mann sein, wie er selbstsicher die Wallstraße entlang geht, eine Schwarz-Weiß raucht, nach links und rechts grüßt. Auf diesen Vater darf ein Sechsjähriger stolz sein. –

      Die Schule in der Wallstraße stand direkt am Bürgersteig. Hinten befand sich ein Hof, auf dem einige Kastanien an Lichtmangel zugrunde gingen. Muffig riechende, mit grauen Fliesen belegte Korridore durchzogen das Haus wie Ameisengänge. Es regnete in dünnen Fäden an diesem Apriltag. Alles floss zu einer grauen Kulisse zusammen.

      Die Hand der Mutter bot wenigstens einen kleinen Halt. Karl war tief beunruhigt. Von allen Seiten kamen Kinder mit ihren Eltern, marschierten durch das Tor in den Hof und warteten. Der Regen hörte endlich auf. Dafür strich kühler Wind durch das Schultor.

      Die Eltern redeten tröstend auf die bedrückten Kinder ein, bis der weißbärtige Rektor von einem jüngeren, auffallend mageren Mann begleitet, auf den Hof trat.

      „Kommen Sie bitte etwas näher", sagte er. Die Eltern rückten gehorsam zusammen.

      „Heute beginnt für Ihre Kinder ein neuer Lebensabschnitt“, sagte der Rektor. „Sie kommen in die Schule, die ihr Leben eine Zeitlang bestimmen wird. Das ist ein Einschnitt, der sich nicht immer leicht vollzieht. Doch wollen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Kinder zu gehorsamen, fleißigen und pflichtbewussten Bürgern zu bilden.“ Er räusperte sich und fuhr dann fort: „Die Zeiten sind schwer. Viele sind arbeitslos, und noch ist kein Ende abzusehen. Diese Republik ist unfähig, eine Wende herbeizuführen, und so sehen wir eine große Nation an seine Feinde verraten, aber Deutschland wird sich auf seine Größe besinnen. Es wird eine grandiose Wiedergeburt erleben. Das Volk Friedrichs des Großen kann nicht untergehen, kann nicht in die Bedeutungslosigkeit sinken, solange noch deutsche Herzen schlagen und deutsche Männer sich um die Auferstehung seiner Helden bemühen. Die werden sich um das nationale Deutschland scharen. Gebe der Allmächtige, dass die Stunde nicht mehr fern ist, wo die alte deutsche Kraft wieder ihren Kopf über Europa erhebt. Die Feinde mögen sich hüten. - Darf ich Ihnen Herrn Löwe vorstellen? Das ist der Lehrer Ihrer Kinder, und ich bitte, sich mit allen Fragen an ihn zu wenden.“

      Mit diesen Worten trat er zurück und überließ dem mageren Lehrer das Feld, der bisher mit einem verbindlichen Lächeln dabeigestanden hatte, ab und zu nickend.

      Die meisten Eltern blickten betreten zu Boden. Herr Löwe, mit blau umränderten, wässrigen Augen und schlecht sitzendem Anzug, verbeugte sich leicht und bat die Eltern, ihm mit den Kindern in das Klassenzimmer zu folgen. Über Treppen und Korridore kamen sie in einen Raum, auf dessen Tür mit Kreide die Zahl 1 geschrieben war. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Karl sah sich um. In diesem Raum würde sich künftig ein Teil seines Lebens abspielen. Was er sah, war nicht ermutigend. An den graugetünchten Wänden hingen Anschauungstafeln. Dort konnte man die Entwicklung eines Gerstenkorns bis zum fertigen Halm betrachten, hier zeigte eine Tafel das Leben unserer Vorfahren bei Lagerfeuer und erlegtem Hirsch. Die ruppigen Bärte hingen ihnen auf die Brust und sie trugen lange Haare wie die Mädchen. Karl blickte gleichgültig darüber hin. Etwas würgte ihn im Halse. Er wünschte sich weg aus diesem elend kalten Raum.

      Löwe setzte die Kinder auf ihre Plätze. Dann bat er die Eltern, die erste Schulstunde draußen abzuwarten. Daraufhin weinten einige Kinder, aber Löwe ging an das Pult, schlug ein Buch auf und brachte daraus das zur Situation passende Märchen vom Wolf zu Gehör, der sie alle fraß, Rotkäppchen und die Großmutter. Die meisten Kinder fingen an, sich für die Geschichte zu interessieren, Karl aber schluckte und schluckte, um den Kloß in der Kehle loszuwerden. So hörte er nur den letzten Satz, der den Sinn dieses ganzen Leidens augenfällig machen sollte: „Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben.“

      Löwe holte die Eltern wieder herein, verlas die Namen der Kinder, die den Finger heben und hier rufen mussten. Danach verkündete er: „Für heute ist die Schule zu Ende. Es war euer erster Schultag. Morgen bitte pünktlich um acht. Den Stundenplan bekommt ihr später.“

      Karl riss erleichtert die Tasche aus seiner Bank und rannte blindlings an der Mutter vorbei durch den Hof und das Tor auf die Straße. Jetzt schien die Sonne – April, April, der weiß nicht, was er will. Dort erwartete er die Mutter, die ein böses Gesicht machte. Sie gingen die paar Schritte bis zur Inselstraße zurück.

      „Du hast dagesessen, wie ein Hase, der mit offenen Augen schläft. Sonst bist du doch nicht auf den Mund gefallen. Weißt du wenigstes, wie dein Lehrer heißt?“

      Karl


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