Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz
da befand er sich mit dem Großvater und überhaupt mit allen Leuten in schöner Übereinstimmung, Drucker, das war mal etwas.
Auch Herr Schreiter freute sich nun, er stand schon wieder auf und wanderte in der Kochstube umher. Das brachte die Mutter wieder auf die Wohnungsfrage zurück.
„Ja, Frau Kirchhoff“, sagte Herr Schreiter, „das geht sicher auch in Ordnung, ich red heute gleich noch mit dem Wirt.“
Dann war er gegangen, und dann saßen sie wieder in der Stube, und es wurde Abend, sehr früh in diesem Spätherbst zweiunddreißig, aber sie waren angeregt durch diesen Herrn Schreiter, sie alle, er hatte etwas von einem frischen und freien Atem mitgebracht, etwas von Sicherheit und Selbstvertrauen.
Eine Wohnung für die Mutter, ihr alter, bisher unerfüllter Traum, für den Vater eine Stelle als Drucker…
„Bernhard ist ein feiner Bursche", sagte der Vater. „Seinen Tick hat ja nun jeder, er ist im RFB und in der Kommune, der halbe Betrieb übrigens, diese winzige kleine Bude, zu der man kaum Druckerei sagen kann, sonst wär es nicht möglich, dass ich angelernt werde, da passt die Gewerkschaft schon auf, dass nur ausgebildete Drucker rankommen.“
„Lass dich bloß nicht in politische Sachen reinziehen", sagte die Mutter. Der Vater schwieg.
Rotfrontkämpferbund und Kommune, die kannte jedes Kind. Dazu gehörte also der Herr Schreiter, ein feiner Kerl zwar, aber die Mutter musste doch noch einmal vor der Politik warnen. Politik ist etwas schlechtes, wer sich mit ihr abgibt, macht sich die Finger dreckig, Herr Schreiter hatte auch schon ganz graues Haar, und das machte einen komischen Eindruck, denn eigentlich sah er noch jung aus.
Sie brauchten nicht lange zu warten; für einen Abstand von dreihundert Mark konnten sie die Wohnung in der Kastanienallee haben, außerdem durften sie die Summe abzahlen und konnten noch vor Weihnachten einziehen. Ab Januar sollte der Vater als Hilfsdrucker arbeiten, Herr Schreiter würde ihm alles zeigen, was er dazu wissen musste.
Die Zimmer schienen dem Vater etwas groß: „Was stellen wir denn rein in diese Reitställe?" Aber die Mutter war zuversichtlich. Das würde nach und nach kommen.
Und eine Woche vor Weihnachten hält ein Möbelwagen, ein kleiner Möbelwagen in der Inselstraße, und Karl sieht zu, wie die Ziehleute ihre Sachen auf die Straße tragen. Die Mutter ist sehr aufgeregt, sie tut so, als müsste jeden Augenblick eine Katastrophe hereinbrechen, ein Spiegel kaputtgehen, das würde sieben Jahre Pech bedeuten, ein Schrankbein abbrechen oder sonst ein furchtbarer Zwischenfall. Endlich ist alles verpackt, endlich liegt alles im Wagen, endlich können sie die Türen zumachen. Karl, Renate, Mutter und Vater gehen durch das Zimmer. Sie schließen das Fenster. Und dann hören sie Schritte die Treppe heraufkommen: Onkel Hannemann, der die Schlüssel holen kommt und zugleich einen Kontrollgang durch die Kochstube macht. Er klopft an, ehe er hereinkommt, er trägt sein grauweißes Hemd, Hosenträger darüber, auf seinen Armen sträuben sich die Haare.
„Mahlzeit", sagt er. Sein Blick wandert zur Decke. „Da geht ja der Putz ab“, sagt er, „warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?“
Der Vater steht wartend da, er antwortet nicht.
„Sie haben ja hier eine Badewanne aufgestellt gehabt", sagt Onkel Hannemann unfreundlich. „Da sieht man ja noch jetzt den Rand auf den Dielen, das ist verboten. Ist denn unter dem Fenster der Schwamm drin? Sie sind verpflichtet gewesen, mir das zu melden."
Der Vater sagt noch immer nichts. Karl blickt fassungslos auf Onkel Hannemann, der doch sonst immer so freundlich war.
„So“, sagt Onkel Hannemann, „so nehme ich Ihnen die Wohnung nicht ab. In dem Mietvertrag steht, die Wohnung ist in sauberem und gutem Zustand zu übergeben. Für den Schwamm mach ich Sie haftbar, Herr Kirchhoff.“
Karl beobachtet gespannt die Auseinandersetzung. zwischen Onkel Hannemann und dem Vater.
„Ich hab große Lust, Ihre Möbel hierzubehalten“, sagt Onkel Hannemann.
Jetzt platzt der Vater, zornig redet er auf 0nkel Hannemann ein, erklärt ihm, dass sein Gestänker jetzt gar nichts mehr ändert, und dass sie ausziehen, wie es ihnen passt.
„Da irren Sie sich aber gewaltig“, sagt Onkel Hannemann, „ihr müsst eure Mietverträge lesen, Leute, nicht bloß unterschreiben. Da steht auch drin, ich kann Ihre Klamotten einbehalten bis zur Tilgung eurer Schulden, aber det will ick nich. Wir können ja die Sache in Ruhe beilegen.- Geben Sie fuffzig Mark und die Geschichte ist erledigt. Den Rest jeb ick.“
Das ist Onkel Hannemann: Er will fünfzig Mark, den Rest gibt er, angeblich um den Schaden reparieren zu lassen. Aber sogar Karl weiß, dass Onkel Hannemann die Wohnung so wieder vermieten und dann nie mehr heraufkommen wird, bis der Betreffende wieder auszieht. Onkel Hannemann will nur die fünfzig Mark, er ist ein Gauner, seine Freundlichkeit ist nichts wert, er kam die ganzen acht Jahre nicht hinauf in die Kochstube, immer wenn die Mutter einen Übelstand meldete, zuckte er die Achseln. Bei der Mietzahlung kamen die Mieter zu ihm in die Wohnung und beklagten sich, er zählte ruhig die Geldscheine ab, nickend, Besserung versprechend. Manchmal erließ er einem „alleinstehenden“ Mädchen, wie Mutter sagte, oder Nutten, nach Onkel Hannemann, eine Restschuld, augenzwinkernd. Nein, Onkel Hannemann war kein Freund, der wollte nichts Gutes für Sie, er wollte fünfzig Mark, und der Mietvertrag, den sie dummerweise nicht gelesen hatten, dieser Mietvertrag gab ihm das Recht auf die fünfzig Mark.
„Nun passen Sie mal gut auf, Herr Hannemann'", sagt der Vater, „wir geben ihnen nun die Schlüssel, der Wagen wird abfahren, und Renate wird schnell mal zur Wache gehen, einen Schutzmann holen, der feststellt, ob die Schäden, die Sie gefunden haben, eine Beschlagnahme der Sachen rechtfertigt. Übrigens bekommen Sie von mir keinen Pfennig. Wir haben Ihnen mehr als einmal gesagt, dass der Schwamm im Haus ist, nicht nur wir, alle Mieter. Wenn Sie Ihr Haus verkommen lassen, dann ist das Ihre Sache.“
Der Vater weiß immer Rat, nie ist er verlegen. Onkel Hannemann ist ein Aas, keine Freundschaft mehr mit solchen Wirten! Der Vater legt die Schlüssel auf das Fensterbrett, der sprachlose Onkel Hannemann sieht zu, wie sein Mieter die Familie aus der Wohnung schickt und selber geht. Da läuft er ihnen nach, er läuft bis ins Treppenhaus, er brüllt ihnen hinterher, Türen gehen auf, es entsteht ein Streit von Wohnung zu Wohnung, Onkel Hannemann wird wüst beschimpft, einer nennt ihn eine Mistamsel. Diesen kernigen Ausdruck nimmt Karl mit aus der Inselstraße.
Der Wagen kann nun endlich losfahren. Karl sitzt vorn in der Führerkabine, er kann durch die Scheiben auf die Straße sehen. Wallstraße, Alexanderstraße, Alexanderplatz, und als der überquert ist weiter links vom Prenzlauer Berg, Alte und Neue Schönhauser, Fehrbelliner Straße, Kastanienallee. Da ist man, der Wagen hält, es fängt leicht an zu regnen, die Sachen werden im Laufschritt in den Hausflur getragen und dann in den vierten Stock: Dort ist ihre neue Wohnung, zwei Zimmer, Küche, ein Balkon, Toilette eine halbe Treppe tiefer, aber „sie wird nur von uns benutzt.“
Am Abend sitzen sie alle vier in der neuen Wohnung, der Vater räumt seine Bücher in das Regal. Die Mutter mäkelt, der Wasserhahn müsse abgedichtet werden, „die Bücher kannst du doch morgen auch noch einräumen, dass ich erst mal Wasser kriege.“
Es klingelt. „Wer ist denn das nun wieder?“
Es ist Herr Schreiter mit seiner Frau Kathinka, die kein richtiges Deutsch spricht, weil sie eine Polin ist. Und zu sechst sind sie endlich spät am Abend so weit; dass sie sich um den runden Ausziehtisch setzen können. Die Frauen trinken Kaffee, die Männer Bier. Es wird Mitternacht, und Karl und Renate gehen ins Nebenzimmer. Dort sind zwei Betten für sie aufgestellt. Es ist die erste Nacht im neuen Haus, und sie liegen jeder in einem eigenen Bett.
Der Vater und Herr Schreiter saßen nun fast täglich beieinander. Die Kinder sagten Onkel und Tante zu dem Ehepaar, die Eltern duzten sich, sie feierten das Weihnachtsfest und Silvester zusammen, als seien sie eine Familie. Der junge Karl fasste langsam Zutrauen zu dem Kollegen des Vaters. Den Gesprächen aber, die geführt wurden, stand er etwas ratlos gegenüber.
Weshalb sollte ein „Aktionsprogramm“ plötzlich nötig sein? Was bedeutete das Wort überhaupt? Es musste etwas