Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz

Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz


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gebeizten Bänken. In der ersten Reihe sitzen die Konfirmanden. Der Pfarrer hat sie hereingeführt. Dazu spielt die Orgel. Man kann das Instrument nicht sehen, es sei denn, man will die langen, hohen Pfeifen dafür halten. Der Vater hat Karl in Eile einiges erklärt - längst nicht genug für den Wissensdurst seines Sohnes.

      Die Orgel verklingt, der Pfarrer, ein kleiner alter Mann, weißhaarig und gebückt durch die Last der Jahre, steht mit dem Rücken zu ihnen vor einem Tisch, der mit einer Decke belegt ist. Darauf stehen ein Kruzifix, frische Blumen und weißliche Kerzen, die aber nicht brennen. Sie sind wohl bloß zur Zierde da, wie Mutters Kerzen in dem porzellanen, dreiarmigen Leuchter auf der Anrichte, die auch nie angezündet werden. Dann dreht sich der Pfarrer um, hebt die Hände, und die Menschen müssen aufstehen. Karl verpasst den richtigen Augenblick, bekommt einen sanften Rippenstoß von der Mutter, und steht nun auch schnell auf. Sie müssen etwas singen. Er versteht den Text nicht, aber die Orgel spielt ihnen das Lied vor. So geht's einigermaßen, auch weil der Pfarrer sehr laut mitsingt Karl versucht, sich den verschiedenen Tonhöhen anzupassen, und es gelingt ihm ganz gut. Später dürfen sich die Menschen wieder setzen.

      Karl sucht den Opa, der im Bratenrock neben der Oma und der Tante sitzt, schräg hinter ihnen. Der Opa macht ein Gesicht, als hätte er soeben eine ganz schlechte geschäftliche Nachricht bekommen, die Mundwinkel sind leicht herabgezogen; die Oma hält ein Taschentuch in der Hand, sicher wird sie gleich weinen. Nur die Tante hat ein freundliches Gesicht, wie immer. Karl versucht dem Opa ein Zeichen zu geben: „Ich bin da, siehst du“, aber der Opa schickt ihm einen strafenden Blick zu und sieht ihn dann überhaupt nicht mehr an. Die großen Hände mit den schwarzen Haaren darauf liegen übereinander im Schoß. Beim Singen reißt der Opa den Mund so weit auf, das man sein festes weißes Gebiss sehen kann, dabei hat er die Augen geschlossen. Und das ist schon merkwürdig.

      Von der Oma weiß Karl, dass sie jeden Sonntag in die Kirche geht, selbst wenn sie erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen war. Das ist demnach eine wichtige Angelegenheit für die Großen, und es ist offenbar kein Zwang. Man tut es oder tut es nicht. Der Vater oder auch die Mutter gehen nie in die Kirche. Renate musste zum Konfirmandenunterricht, sonst hätte sie eine Kirche wahrscheinlich nie von innen gesehen. Karl kommt bei Beginn der Predigt zu dem Schluss, es müsse eine immerhin bedeutende Sache sein, wenn alle plötzlich so großen Wert darauf legten. Aber es ist auch wirklich schön. Die Orgel spielt, es hört sich an, als käme die Musik direkt vom Himmel herunter, weil man den Menschen nicht sieht, der das Instrument in Bewegung setzt.-

      Im Übrigen ist es kalt, hundekalt für einen Mai, oder wie es der Opa ausgedrückt hat vorhin: „Das ist der beschissenste Mai, den ich je erlebt habe!“ Das war, als sie im dichten Schneegestöber, eingehüllt in ihre Mäntel, geschützt durch Regenschirme in die Kirche marschierten. Nicht einmal die Kleider konnte man sehen, die teuren, die mit soviel Aufregung beschafft worden waren und die nun niemand auf der Straße bewundern konnte. Bloß der Opa sah würdevoll aus in seinem Zylinder, eine Kopfbedeckung, die er, Karl, sich nachher genauer ansehen wird. Man kann sie zu einem flachen Teller zusammendrücken, und dann wieder, klapp, springt sie zu einer großen, spiegelblanken Röhre auf. –

      Der Pfarrer ist auf die Kanzel gestiegen, einen kleinen Vorbau an einer Säule mit einem Dach, obwohl es doch hier nicht regnen kann. Er stützt sich auf die Brüstung, hat die Hände gefaltet und den Kopf darauf gelegt. Er wird wohl nachdenken, was er jetzt sagen soll. Das ist offenkundig: Er will eine Rede halten, wie ein Schullehrer. Jetzt löst er sich mit einem heftigen Seufzer - die Menschen atmen ordentlich auf. Karl dreht sich um und sieht, wie der Opa mit dem Fingernagel seines Zeigefingers etwas aus seinen Zähnen puhlt. Dann beginnt die Rede, der man rein gar nichts entnehmen kann.

      Vorhin hat der Vater mit Renate gesprochen, Karl hat nicht hören können, wovon die Rede war, aber am Schluss ist Renate dem Vater um den Hals gefallen, und der Vater hat ihre Schultern gestreichelt. Dann musste er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche fischen, die Brille abnehmen und sich die Tränen fortwischen. Karl selber hat etwas geschluckt bei diesem Anblick. Immerhin hat er daraus entnommen; dass nun alles in Ordnung ist, und dass Renate nicht in den Kiosk muss, den der Opa ihr vorbestimmt hatte. Auch braucht sie nicht zu heiraten was sie doch nicht will.

      Und noch etwas gab es heute früh; eine Versöhnung zwischen dem Vater und dem Opa, sie tranken sich zu, stießen die Gläser vorher und hinterher zusammen, sahen sich fest in die Augen, mit Handschlag. So wie der Opa einen Viehkauf abschließt: „Das gilt, das ist wie ein Kaufvertrag, man kann nicht mehr zurück, sieh mal, Karlchen, das kommt noch aus der Zeit, als ein Wort was wert war.“ Karl hat das oft beobachtet: Da stehen sich die zwei gegenüber, der Opa und der Händler, und der Händler versucht, die Hand des Opa zu erwischen, der sie aber zu verstecken sucht, nicht zu weit, denn sonst kommt der Mann vielleicht auf die Idee, dass er, der Opa, nicht kaufen will, aber auch nicht zu nahe, damit sich die beiden Hände nicht unvermutet treffen. Sonst greift der Händler zu, und es ist ein Verlustgeschäft für den Opa.

      So jedenfalls standen sich Vater und Großvater gegenüber, dann klopften sie sich auf die Rücken, dann tranken sie noch einen, und die Tante, die Oma und die Mutter standen im Kreis herum und weinten ausgiebig. Renate war noch in ihrem Zimmer und fummelte an ihrem Kleid herum.

      Dann hatte der Opa gesagt, er sei entschlossen, auch etwas für Renate zu tun, er werde ihr einen Kiosk einrichten, und sie prozentual am Umsatz beteiligen. Über die Einzelheiten könne man noch reden, das müsse nicht jetzt sein. Zigaretten, Schokolade, Eis, und das sei eine gute Idee. Ein frisches Gesicht, das liebten die Leute hinter einem Verkaufstisch. Da war der Kioskplan, von dem sie alle gewusst hatten, die Mutter, Renate durch die Mutter und der Vater durch ihn, Karl. Der Vater hatte nur abgewinkt und ganz freundlich aber fest gesagt, es sei nicht nötig, sich zu bemühen. Er habe andere Pläne mit seiner Tochter.

      „So. Andere Pläne.“ Dem Opa war das wohl nicht recht gewesen, aber er hatte nichts gesagt. Damit war der Kioskplan wohl ein für allemal begraben.

      Der Pfarrer steigt jetzt von der Kanzel herunter, er muss vorsichtig gehen, um sich nicht auf den schwarzen langen Rock zu treten. Dann steht er wieder vor dem Tisch mit den Blumen und den Leuchtern, die nie angezündet werden. Nach einem Lied tritt er ein Stück vor, und nun gehen die Kinder, die in der ersten Reihe sitzen, einzeln zum Pfarrer, und es wird etwas mit ihnen gemacht, was Karl leider nicht sehen kann, weil alle nach vorn drängen, weil eine Unordnung entsteht, die der Pfarrer nicht zur Kenntnis nimmt, wohl, weil es so sein muss. Außerdem heulen alle Menschen, ihr Atem steht in kleinen Dampfsäulen vor ihren Mündern.

      Wenn das Zimmer von Opa so kalt wäre, würde er einen schönen Lärm machen, die Weiber anhauchen, damit sie wie der Blitz den Ofen anheizen. Hier indessen steht er auch auf und macht sein komisches Gesicht. Sie dürfen sich wieder setzen, aber nicht lange, dann müssen sie wieder aufstehen und ein langes Gedicht sprechen, „Unser täglich Brot gib uns heute", versteht Karl, weil es der Opa sehr laut sagt, mit zusammengezogenen Brauen. Das ist dann sicher das Wichtigste an diesem Gedicht. Nun legt der Pfarrer jedem der Kinder die Hände auf die Köpfe, Sie müssen sich dabei hinknien. Es sind eine ganze Menge, und es ist gleich halbe eins, wie Karl von der Armbanduhr des Vaters ablesen kann. Ihm knurrt der Magen - es wird Zeit, dass man nach Hause kommt. Da wird noch einmal gesungen, die Orgel spielt wieder sehr schön, und unter dem Klang dieser Musik darf man hinaus.

      Draußen ist es noch unfreundlicher geworden, graue Wolken hängen bis auf die Dächer der Häuser, aus deren Fenstern die Zuschauer liegen; sie winken und lachen, und man weiß nicht, überwiegt bei diesem Fest nun das Lachen oder das Weinen? Sie müssen eine ganze Weile warten, ehe Renate heraus kommt. Alle gratulieren ihr, alle weinen, jeder drückt das Kind an sein Herz, alle versichern, dass es sehr schön war, und dass sie eine Erinnerung fürs Leben habe, denn nun stünde sie an der Schwelle, nun beginne der Ernst des Lebens, alle würden ihr helfen, diesen Ernst zu meistern, und Renate strahlt. Karl sieht es neidlos: Renate ist der Mittelpunkt. Das ist richtig. Sie ist ein großes, schönes Mädchen, das muss man ihr lassen. Die Begriffe haben sich verschoben. Früher waren ihre Augen komisch, standen schräg in dem zu kleinen Gesicht. Heute sind sie hell und schön, die Wimpern sind lang, die Augenbrauen natürlich gewachsen, dichtes helles Haar fällt ihr weich in den Nacken, wenn sie schnell den Kopf dreht, bekommt das Haar einen Ruck, schwingt mit herum. Sie hat lange schmale Beine, dünne Arme von ganz


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