Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz
Nacht aber, kurze Zeit danach, blieb als dunkle und drohende Erinnerung im Gedächtnis haften. Karl und Renate wurden durch ein Klopfen an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Sie hörten den Vater öffnen und Stimmengewirr im Wohnzimmer. Dann ging das Licht an, zwei Männer in grauen Mänteln befahlen ihnen, aufzustehen.
„Nun mal los, Kirchhoff“, sagte der eine, während der andere sich an den Büchern zu schaffen machte, sie durchfasste und kräftig schüttelte. „Sie müssen doch wissen, wo Ihr Genosse steckt. Nun packen Sie mal aus, das ist besser für Sie.“
Der Vater erklärte, er habe Herrn Schreiter lange nicht gesehen, sei übrigens in keiner Partei und hätte keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Das klang merkwürdig anders für den kleinen Karl, und der Vater sah auch anders aus, gar nicht kampflustig, eher ängstlich. „Was haben Sie denn heute in der Wohnung Schreiters zu tun gehabt?", fragte der andere Graue.
Er hätte den Auftrag gehabt, sich zu erkundigen, weshalb Schreiter nicht zur Arbeit käme, der wäre aber nicht zu Hause gewesen. Ob etwas Ernstes vorgefallen sei?
„Fragen stellen wir“, sagte der Graue. „Komische Bücher haben Sie, lesen Sie die alle?"
Freilich, der Vater las diese Bücher alle. Was waren das für Leute, die solche Fragen stellten, die den Vater herausklopften und eine Macht zu verkörpern schienen, gegen die selbst der Vater nichts mehr vermochte; jedenfalls tat er sehr bescheiden und sah ziemlich blass aus. Was war bloß geschehen? Sie suchten Herrn Schreiter, Onkel Bernhard, warum, was hatte der getan?
„Nun sehen Sie mal an“, sagte der Graue. „Aber dass die Nationalsozialisten den Reichstag angesteckt haben, das haben Sie doch überall rumgequatscht, das können Sie doch nicht bestreiten, Kirchhoff, ja?“
„Nein", sagte er Vater, „wir wissen ja, dass eine Untersuchung im Gange ist, und die Justiz wird die Wahrheit sicher herausbringen.“
Der eine Graue sagte, die Justiz würde zunächst was ganz anderes herausbringen, wenn er nicht seinen Mund aufmachte.
Ob sie einen Haftbefehl hätten, fragte der Vater.
„Werden Sie nicht frech“, sagten die Grauen und: „Sagen Sie mal, Kirchhoff, das ist doch so ein richtiges rotes Nest, Ihre Bude da in der Bülowstraße, was? Da gefällt es Ihnen wohl?"
Der Vater sagte er kümmere sich nicht um Politik.
Das sei ein guter Witz, knurrte der Graue, man sehe es an den Büchern. Ob er sie für Idioten halte?
Immer wieder die Bücher, sie mussten eine gefährliche Kraft enthalten, einen leicht brennbaren Stoff.
Dem jungen Karl saß die Furcht in der Kehle. Was war in der Welt alles möglich? Immer wenn man geglaubt hatte, nun alles Notwendige zu wissen und zu können, immer wenn diese Welt komplett geworden war, trat ein Ereignis ein, das die Ergebnisse aller Bemühungen fragwürdig machte. Acht Jahre genügten nicht, um alles zu lernen, alles zu sehen, alles zu suchen. Vorgestern noch war Herr Schreiter, Onkel Bernhard, hier gewesen, er war nur kurz geblieben, hatte einen Kaffee getrunken und war wieder gegangen. Das brauchten die Grauen nicht zu wissen, die sich so feindlich benahmen.
„So, mein Junge“, sagte der eine, „du kennst doch den Herrn Schreiter. Wann war der denn das letzte Mal hier bei euch? Wir suchen ihn nämlich, wir haben was für ihn, und das ist dringend. Nun sag uns schön die Wahrheit!"
Karl sagte, Herr Schreiter wäre nicht hier gewesen, zu Weihnachten, ja, da wäre Herr Schreiter bei ihnen gewesen. Er sah dem Vater bei dieser Antwort ins Gesicht, in dessen Augen ein tiefer Schreck saß, bis ihn einer der Grauen bei den Schultern nahm und herumdrehte. Sie stellten noch ein paar andere Fragen, sie fingen an zu schimpfen, sie drohten, den Vater mitzunehmen, weil er nicht die Wahrheit sage, aber soviel merkte der junge Karl, dass diese Wahrheit für sie alle gefährlich sein würde.
Die Männer gingen. Sie nahmen den Vater nicht mit, sie ließen sie ungeschoren. Alle vier saßen um den runden Ausziehtisch, schweigend. Der Vater blickte vor sich auf das weiße Tischtuch, unter seinen Haaren perlten helle Tropfen hervor.
Er denkt an einen Tag im März, an dem er auf den unruhigen Straßen herumbummelt, selbst unruhig, selbst getrieben. Vor sich sieht er einen Mann im Malerkittel, der ihm bekannt vorkommt. Es ist spät abends, die Dunkelheit ist hereingebrochen, sehr plötzlich, ohne lange Dämmerung. Der Mann trägt einen Eimer, verschwindet in einem der Häuser der Schwedter Straße, kommt wieder heraus, biegt in die Kastanienallee ein, geht ins nächste Haus, immer so weiter, immer die Kastanienallee entlang. Zwei andere Männer laufen mit, bald überholen sie den Maler, bald bleiben sie zurück. Mal stehen sie und lesen die Plakate einer Litfaßsäule, mal brauchen sie lange um sich eine Zigarette in Brand zu setzen. Sie überqueren die Straße, kommen zurück. Wer sie beobachtet, weiß nichts mit ihnen anzufangen. Ihr Benehmen lässt keinen Schluss auf ihr Ziel zu, vielleicht haben sie keins, vielleicht gehören sie zu dem Mann im Malerkittel. In ein paar Wochen sind Wahlen, die Maschine läuft auf Hochtouren, die Mittel sind ungewöhnlich, der Wahlkampf beispiellos. Hitler wird gewinnen, kein Zweifel, und die drei Männer haben sicher was damit zu tun. Ein paar Wochen haben genügt, ein ganzes Volk auf dem linken Ohr taub und auf dem rechten hellhörig zu machen, für diese Regierung der nationalen Konzentration. Es wird eine Größe beschworen, die angeblich in der Zukunft liegen soll.
Hermann geht gespannt dem Dreigespann nach; er ahnt etwas, will es aber genau wissen. Wenn das nicht Bernhard ist, sein Freund und Kollege, der dort den Eimer trägt, was nimmt der auf sich und wofür? Glaubt er wirklich noch, die Fahrt sei aufzuhalten? Was mag in dem Eimer sein? Der Stiel einer Deckenbürste ragt heraus. Hermann schleicht ihm nach. Er will herauskriegen, was Bernhard treibt, weshalb er in dieser Verkleidung als Maler getarnt, umhergeht. Auf dem Boden des ersten Hausflures findet Hermann die Erklärung für diese Maskerade, ein dünnes Bündel Flugblätter. Sie fordern zur Bildung der Einheitsfront auf. Hermann schiebt das Blatt in die Brusttasche und rennt auf die Straße. Der Mann im Malerkittel ist nur noch als ein kleiner weißer Punkt sichtbar. Hermann geht ihm nach. Die Straße ist unbelebt. Was sich in diesen Wochen ereignet hatte an Mord und Gewalttat, flüstert man sich im vertrauten Kreise zu. Weshalb setzt sich Bernhard dieser Gefahr aus?
Hermann muss einen Augenblick lang stehenbleiben und sich sammeln. Hinter sich hört er Lärm. Eine Gruppe Menschen steht gestikulierend auf der Straße. Er beschleunigte seinen Schritt, lässt im Gehen das Flugblatt aus seiner Tasche gleiten. Jetzt nicht auffällig benehmen, denkt er, gibt die vorgetäuschte Ruhe auf und läuft los, bleibt vor einem Haus stehen und sieht sich vorsichtig um.
Im Hausflur ertönen hallende Schritte. Wer ist das? Hier kann Bernhard noch nicht durch sein. Die Schritte kommen näher, die Haustür wird von innen geöffnet, und Bernhard steht in der Tür, im Straßenanzug, eine Zigarette rauchend, ohne Eimer und Kittel. Sie messen sich mit Blicken.
Bernhard fasst sich als erster. „Hermann!“, sagt er. Es scheint Hermann, als wäre Bernhard um eine Spur blasser geworden.
„Was machst du denn hier?“, fragt er.
„Ich bin dir nachgegangen", sagt Hermann.
Bernhard wirft die Zigarette weg. Er kämpft einen Kampf mit sich, weglaufen oder dableiben. Der kleine Drucker weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ist sein Kollege ein Verräter?
„Tu. Mir den Gefallen und frag jetzt nichts", sagt Hermann schnell, „komm mit zu mir, bis die Luft rein ist.“
Bernhard schlägt den Kragen hoch und geht mit. Erst in der Wohnung lässt er sich erschöpft auf einen Küchenstuhl nieder, stützt den Kopf in beide Hände und wartet.
Hermann tritt an das Fenster und sieht hinunter. Nichts Auffälliges zu sehen. Die Leute haben sich wohl verlaufen.
„Willst du Bier?“, fragt Hermann. Bernhard nickt. Sie trinken es gleich aus der Flasche. Dann schüttelt Hermann den Kopf und sagt: „Muss das sein? Du machst dich doch unglücklich, Mann. Bernhard, du bist doch kein Dummer!“
„Du bist wohl schlauer, was?“
„Na, beruhige dich nur“, sagt Hermann. Vielleicht hat er ja recht, denkt er.-
Nun