Die Vergessenen 02 - Kitsune. Sabina S. Schneider

Die Vergessenen 02 - Kitsune - Sabina S. Schneider


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ist nicht mehr viel anzufangen, eine weitere Injektion und ihr Geist wird so ausgebrannt sein wie Arjuns ...“, erwiderte der größere, schlaksige mit einem Dreitagebart.

      „Nenn sie nicht beim Namen!“, bellte ihn der kleine Dicke an.

      „Ich meine Nummer 04“, erwiderte der große Schlaksige, „ja, 04 hat bis jetzt am längsten durchgehalten. Aber neue Erkenntnisse haben wir nicht.“ Der Lulatsch kratzte sich am Kinn.

      „Verfrachte 09 in den Bestrafungsraum“, grunzte der Kleine.

      „Wieso? Sie hat doch kooperiert“, erwiderte der Dünne und blickte seinen Kollegen verwirrt an.

      „Ja, aber so können wir den Putzdienst gleich das Prio machen lassen und 09s Zelle. Ihr ist die Welt jetzt erst einmal egal. Die bekommen eh nicht mehr mit, wo sie sind“, sagte der Kleine kalt.

      Heinrich umklammerte den Schaft seines Messers, das er aus seinem Stiefel gezogen hatte, fester und drückte sich an die Wand. Wut kochte in ihm und er war kurz davor den Weißkitteln den Hals durchzuschneiden, als das kleine, japanische Mädchen ins Zimmer geschubst wurde, umfiel und reglos auf dem Boden liegenblieb. Ihr weißes Hemd hatte jetzt hier und da Blutflecke.

      „Wir sollten ihr das Hemd ausziehen. Es ist bei der OP schmutzig geworden“, hörte Heinrich die Piepsstimme des Langen.

      „Dann verkühlt sie sich vielleicht. Du solltest mit wertvoller Ware besser umgehen! Wer weiß, was passiert, wenn wir nicht bald Ergebnisse liefern können“, erwiderte der Kleine brummig.

      „Hast Recht, ich sag der Reinigungskraft, dass er 09 umziehen soll“, der Lange kratzte sich wieder am Kinn bevor er sich umdrehte.

      „Nachdem er 04 beseitig hat“, sagte der Runde lachend und rieb sich die Hände.

      „Genau!“, schallte die Antwort des anderen, der zögerlich in das Lachen einfiel.

      „Schön, dass wir ihn haben. Ich weiß zwar nicht, was der Bruder verbrochen hat, um diese Bestrafung zu verdienen, aber ich bin froh, dass wir diese Drecksarbeit nicht mehr machen müssen.“ Der Lange nickte eifrig zu den Worten des Kurzen.

      „Wie heißt der nochmal? Irgendetwas mit A“, murmelte der Große noch, während der Kleine nur brummte: „Ist doch egal, wie er heißt. Hauptsache er macht seine Arbeit.“ Dann waren die beiden durch die Tür getreten.

      Heinrichs Faust schloss sich um das Messer, sein ganzer Körper zitterte. Er hatte Angst, zu Boden zu sehen, doch sein Blick suchte die Augen des Mädchens, die vor wenigen Monaten noch voller Lebensfreude gewesen waren. Jetzt starrten sie ihn nur ausdruckslos an. Das war der Moment, in dem die Schuld ihn packte und nie wieder losließ. Auch wenn er noch so schnell aus der Zelle rannte, durch die Tür und den Korridor entlang eilte, konnte er nicht vor sich selbst fliehen. Seine Füße trugen ihn zum Wachraum. Die Karte des Wachmanns ließ er auf dem Tisch liegen, schlüpfte durch die Tür und wurde eins mit dem Schatten, als die Ablösung pfeifend entlangspaziert kam. Ein Blick auf die Uhr sagte Heinrich, dass sie viel zu spät dran war.

      Er drückte den Rücken an die Wand, schloss die Augen und würgte die Übelkeit herunter. Erst nachdem er alleine im dunklen Wald war, weit weg von der Anlage, übergab er sich. Doch den schalen Geschmack seines schlechten Gewissens wurde er nie wieder los.

      Wenige Wochen später wurde sein Auftrag, nach starken Medien zu suchen, zurückgezogen. Heinrich fragte nicht nach. Von dem Geld, dass er bis dahin verdient hatte, konnte er sich zur Ruhe setzen und tat es auch. Doch die leeren Augen des Mädchens verfolgten ihn am Tage und in der Nacht. Er verfiel dem Alkohol und den Drogen. Fünf Jahre lang versuchte er die Schuld in allem zu ertränken, das er zwischen die Finger bekam. Dann hörte er, dass der Orden Akiko nach Japan zurückkehren ließ. Sein Herz jubelte vor Freude, dass sie noch am Leben war und schmerzte bei dem Gedanken daran, was sie in all den Jahren erduldet haben musste. Keines der anderen acht Kinder wurde jemals wiedergesehen.

      Heinrich ließ sich nach Japan versetzen. Niemand stellte Fragen. Wieso auch? Sie waren froh, dass sie den Säufer los waren und hätte ihn über kurz oder lang sowieso strafversetzt. Vermutlich nach Japan. Es dauerte Monate, bevor er es wagte Akiko gegenüberzutreten.

      …

       Frankfurt, November 2010

      Sie landeten abends in Frankfurt. Die letzten zwei Stunden waren eine kleine Erholung für Akiko gewesen. Es hatte sechs Stunden gedauert, bis sie alle Möglichkeiten aller Passagiere durchlebt hatte. Dann war sie eingeschlafen. Die Menschenmasse traf sie zwar vorbereitet, doch es war nicht weniger ermüdend oder schmerzvoll.

      Ein Van holte sie vom Flughafen ab. Sie fuhren circa eineinhalb Stunden. Auch wenn sie durch die verdunkelten Scheiben nichts sehen konnten, wussten Akiko und Heinrich, wo man sie hinbringen würde. Sie würden die A3 entlangfahren, dann die Ausfahrt Badenhausen auf die B45 nehmen und sich danach von Dorf zu Dorf hangeln.

      Als der Motor erstarb, legte man ihnen Augenbinden an, doch Heinrich roch den Wald und kannte den Weg. Er hörte das Summen des Schlosses. Das erste Mal, und auch das zweite Mal. Sie gingen rechts den Flur entlang, nicht links. Erneut erklang ein Summen. Sie wurden geradeaus geführt, dann hörte er das Klicken einer Tür.

      „Da haben wir also unsere kleine Verräter-Bande“, die honigsüße Stimme ließ Heinrich die Haare zu Berge stehen. Er hatte sie nicht häufig gehört, doch sie hatte ihn in seinen Träumen verfolgt. Der Großmeister selbst, würde sich ihrer annehmen.

      „Ich werde einen nach dem anderen verhören und anfangen werde ich mit dir, Heinz. Führt die anderen zwei in die Zellen!“ Wieder vernahm Heinrich das Summen, wieder wurden sie durch den schmalen Korridor geführt, bis das nächste Summen erklang. Dann ratterten Gitter und klirrten Ketten. Seine beiden Arme wurden fixiert, er spürte die Schwere des kalten Eisens, wie es nach Blut lechzend seine Handgelenke entlangschrammte. Man machte sich nicht die Mühe, ihm die Augenbinde abzunehmen. Rechts neben ihm hörte er ebenfalls Ketten rascheln.

      Es vergingen wohl Stunden, bevor man Heinrich holte. Als man ihm die Augenbinde abnahm, blickte er in das lächelnde, schmale Gesicht und die kalten, grünen Augen des Großmeisters. Selber Mantel, selber Anzug, sogar die Krawatte von damals war identisch. Wie ein Zeitreisender stand der schlanke Riese vor ihm. Das bleiche Gesicht immer noch so märchenhaft und schön wie damals. Keine Falte war zu sehen. Das schwarze Haar schien bis auf den Millimeter genau so lang wie vor 25 Jahren. Heinrich hatte wohl damals Recht gehabt. Der Großmeister konnte nicht menschlich sein.

      „Heinrich, wenn ich mich recht entsinne. Du hast uns gute Dienste geleistet. Viele talentierte Kinder gebracht. Schade, dass nur eins davon überlebt hat. Du hast dich gut um 09 gekümmert, hat man mir gesagt. Dafür meinen Dank.“ Heinrich wagte es nicht, zu blinzeln, und versuchte, das Blut auf dem Boden sowie die Folterinstrumente auf dem Tisch zu ignorieren. Sein Blick verfing sich an den unzähligen Kästen an der Wand. In allen Farben und Formen, jedes ein Kunstwerk der Natur für sich, aufgespießt mit Nadeln. Für die Ewigkeit schön und doch nie wieder lebendig. Seltsam, ihm war vorher nicht aufgefallen, wie schön Schmetterlinge waren.

      „Man hat mir auch gesagt, dass du 09 zu viele Freiheiten gelassen hast. Ihr sogar erlaubt hast, nach Amerika zu reisen.“ Der Großmeister trat näher, ergriff Heinrichs Kinn und schaute ihm tief in Augen, in denen sich nur Schmetterlinge widerspiegelten. Heinrich konzentrierte sich auf die gefangenen Schönheiten.

      „Wusstest du von dem Panther aus der Prophezeiung? Du wusstest es nicht“, beantwortete der Großmeister seine eigene Frage und fuhr gelassen fort, während seine Finger sich schmerzhaft in Heinrichs Haut bohrten, „dann wusstest du auch nicht, dass sich das Tor und der Panther bei Akiko befanden? Nein, auch das wusstest du nicht. Wolltest du nicht wissen. Und du weißt auch nicht, wo sie jetzt sind.“

      Der Großmeister hob Heinrichs linke Hand und betrachtete die nagellosen Finger. Seine Augen blieben kurz an dem verkrusteten Blut hängen, dann riss er Heinrichs Hemd auf und begutachtete die blauen Flecken. Mindestens eine Rippe war gebrochen und bereitete Heinrich beim Atmen Schwierigkeiten. Heinz war bei seinem Verhör nicht zimperlich gewesen. Der Großmeister seufzte.


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