Sehnsucht tragen. Gaby Hühn-Keller
nicht auf:
Einer Perle gleich
liegt sie da,
durchsichtig wie
das zerbrechliche Glas,
schillernd wie
der Regenbogen:
Frucht der sich
tröstenden Seele.
Erbarme dich Sonne,
erbarme dich Wind,
nimm sie auf,
mische sie bei
den Ausdünstungen
der Erde,
vereine sie mit
der steigenden,
ziehenden Wolke.
Ihre Sehnsucht ist groß,
den Himmel
zu streifen.
Daphne (griechisch Lorbeer) ist eine Nymphe: Von Apollo geliebt und verfolgt, wird sie auf ihr Flehen hin von ihrer Mutter Gaia, der Erdgöttin, in den dem Apollo heiligen Lorbeerbaum verwandelt. Das einzige, was Apollo bleibt, ist, sich einen Kranz für sein Haupt aus ihren Zweigen zu flechten. In meinem Gedicht jedoch beklagt Daphne ihr neueres Schicksal.
Daphnes Klage
Nun mich der Sturm erfasst,
mich die Himmel umkreisen,
sich alles bewegt,
ein jeglicher Sinn
seine Fähigkeit ausformt,
ich alles gleichzeitig
geben könnte, stehe ich
– Daphne – auf meinem Platz
gebannt-verwurzelt.
Mit Botschaften sende
ich meine Vögel aus:
Ach, Apollon, deine
Lieder so schön
bereiten mir Schmerzen,
Sehnsucht verbrennt
mein Laub, ich
bitte dich, schweige.
Ach, Apollon, so singe doch.
In der Stille vor
Einsamkeit vertrocknen
mir meine Wurzeln.
Die Lyra in Händen
siehst du zu meinen
Ästen auf und singst.
Ach, Apollon, könnte ich
Früchte tragen!
Im Labyrinth
Ich gehe, gehe, gehe;
sehe den Zielpunkt nicht,
verirre mich im Durchgang,
suche nach einem Fluchtweg,
verstehe die Wegzeichen nicht.
Einzig der Seele Traurigkeit
projiziert immer wieder
D e i n Bild, das ich in
Nischen berge. Ich gehe:
An dieser Stelle war ich schon.
Im Weitergehen zitiere
ich einen Dichter:
„Solange die Sehnsucht wacht,
sind wir nicht ohne Hoffnung.“
Kalt am Morgen
Aufwachen
nach kurzem Schlaf:
Nähe der Träume.
Gefangen in Sehnsucht
nach Geborgenheit
– liebende Arme umfangt mich –
Schlafdecke weich,
hülle ein.
Die Klingelsignale
des Weckers machen
mich schutzlos.
Wärme verlasse ich,
in Kälte trete ich ein.
Meines Daseins
unbewusst Unbehaustes
greift mich mit spürbarem
Schauer an.
Hoffe, dass gute Menschen
irgendwo beten.
W e i ß
Als morgens Schnee lag,
die fahlgrünen Grasspitzen
sich unter die
Schneeflocken duckten,
die ockerigen Wiesensäume,
die braunschwarzen
Ackerraine
sich von Weiß
bedecken ließen,
drang Weiß
auch in mich ein:
W e i ß
Langersehntes Weiß:
Alle inneren Räume
erfasste und erfüllte
schwingendes Weiß!
Fürsorglich
Wenn Worte fürsorglich
einhüllen, entstehen
innere Freiräume.
Behaglich schwimmen diese
wie umzäunte Inseln,
bilden kleine warme
Gefühls - Nester
im Strom der Betriebsamkeit.
Komm, lass dich auf
meiner Insel nieder:
Für ein Weilchen
lassen wir uns treiben
gegen die Hektik der Zeit.
Der Frühling kam
Der Frühling kam
und brachte große Hoffnung
mit dem neuen Grün.
Von außen nach innen
drehte der immerwährende
Neubeginn seine Kreise –
sie schwangen, angereichert
mit Seelenmustern,
wieder nach außen:
Im blauen Äther, in die
alten Lieder, spielt
eine neue Melodie.
Freier Tag
Weißes Feld
Unbeschriebenes Blatt
Wolkenloser Himmel
Landschaft ohne Horizont
In der gläsernen
Durchsichtigkeit der
Z e i t.
Kein Stundenprotokoll
Vorwärts-rückwärts
In Eigengeschwindigkeit
Erspüre den
Eigengehalt
Schwebend-schwingender
Z e i t.