Schneckenpost. K. D. Beyer
blickte in ratlose, panisch dreinschauende Gesichter.
„Keine Ahnung …!“
„Aber was willst du denn dann machen? Du brauchst doch jemand, der sich um dich kümmert!“
„Ich war noch niemals in Alaska!“
Die Gesichtszüge von Luisa und Arno entglitten ihnen immer mehr.
„Mutter, was willst du denn in Alaska? Da ist es arschkalt!“
Nora tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. Dann stellte sie fest, dass sie tatsächlich ins Grübeln kann. Wieso eigentlich war ihr Alaska so spontan in den Sinn gekommen? Sie hatte nicht wirklich vorgehabt, nach Alaska zu reisen. Doch plötzlich verspürte sie den Wunsch, diese Idee eiskalt in die Tat umzusetzen.
„Um das herauszufinden, werde ich so schnell wie möglich hinfahren müssen, fürchte ich!“, antwortete sie grinsend.
Nora machte eine lange Pause.
Die Blicke ihrer Kinder waren unbezahlbar.
Nora triumphierte.
„Und dann baue ich mir dort ein schnuckeliges, kleines Iglu, kaufe mir ein paar Schlittenhunde und schaue mir die Gegend an.“
„Und wie lange willst du dir dort die Gegend anschauen?“
„Bis mein Iglu geschmolzen ist und die Hunde mir die ganze Gegend gezeigt haben … vielleicht.“
Nora seufzte und senkte ihre Stimme.
„Wie lange ist es jetzt her, dass Papa tot ist?“ flüsterte sie, kaum hörbar.
Betretenes Schweigen, Verwirrung und Trauer.
„Ein Jahr, vier Monate und 13 Tage – höchste Zeit für mich, ein neues Leben zu beginnen, bevor auch mein Leben zu Ende ist!“
„Mit 55 – spinnst du?!“ Luisa war gerade mal 24 – was wusste sie schon vom Leben?
„Als Mutter bin ich längst arbeitslos – ich brauche eine neue Herausforderung. Auch wenn ihr meint, mich noch immer beschäftigen zu müssen. Wenn ich das Haus verkaufe, habe ich genug Geld, um mir in Alaska ein neues Leben aufzubauen!“
„Wieso ausgerechnet Alaska?“
„Ja, Luisa hat recht! Wieso nicht Australien? Da könnte ich den ganzen Tag surfen!“
„Genau! Oder nach Neuseeland! Dort könnte ich dann Tiermedizin studieren!“ Die Geschwister waren sich einig – wie immer, wenn demokratische Entscheidungen getroffen werden mussten.
Doch dieses Mal musste gar keine demokratische Entscheidung getroffen werden. Nora hatte ein Schlupfloch aus ihrem bisherigen Hamsterrad entdeckt. Dieses Schlupfloch war so überdimensional groß, dass sie es bisher völlig übersehen hatte.
„Ihr könnt sehr gerne und wann immer ihr wollt, nach Australien oder nach Neuseeland reisen und von mir aus auch bleiben. Ich ziehe nach Alaska. Und zwar alleine! Alles andere kommt mir nicht in die Tüte - ist viel zu langweilig!“ Nora schaute freundlich lächelnd in die Runde.
„Will noch jemand Tee?“
Kapitel 6
„Wenn du auf deine alten Tage noch Philosophin werden oder die Welt retten willst, musst du in einer Tonne leben, oder – noch stilechter – ganz spartanisch in einer Höhle. Vielleicht geht auch ein Wohnwagen oder ein Zirkuswagen. Im Internet habe ich kürzlich so einen Zirkuswagen gesehen – alle Achtung, der hatte für kleines Geld so einiges zu bieten!“
Susanne zwinkerte Nora zu.
Nora seufzte: nicht einmal ihre beste Freundin schien sie ernst zu nehmen.
Noras Mut von gestern war längst wieder der altbekannten Hoffnungslosigkeit gewichen. Sie blickte aus dem Fenster. Es regnete in Strömen und der Wind blies die großen Tropfen an die große Scheibe. Die Freundinnen hatten einen langen Spaziergang gemacht und waren gerade noch rechtzeitig zurück gekommen. Nun stärkten sie sich in ihrem Stammcafé an der Ecke.
Stumm blickte Nora auf ihren Himbeerkuchen.
„Jetzt iss‘ doch endlich, Nora! Ich habe schon alles aufgegessen und wenn du nicht aufpasst, klaue ich dir gleich dein Stück!“
Susanne griff nach Noras Teller und Nora schaute dabei zu, wie Susanne den Kuchen zu sich herüber zog.
„Hey, also dir muss es wirklich miserabel gehen! Du isst jetzt den Kuchen und dann lass‘ uns Pläne schmieden: Kino oder tanzen?!“
Nora zog den Teller zu sich heran, den Susanne wieder zurück geschoben hatte. Die Himbeeren und die Sahne kitzelten ihre Geschmacksnerven wach. Es gab nichts Schlimmeres, als mit Susanne ins Kino zu gehen. Sie futterte lautstark ihr Popkorn, das sie für ein Menschenrecht hielt, schrie und weinte am Lautesten von allen Zuschauern und wenn es ganz schlimm kam, applaudierte sie sogar.
„Dieser neue Film, ach den Namen habe ich jetzt nicht parat, soll richtig gut sein – so ähnlich wie „Pretty Woman“. Weißt du noch – damals sind wir bestimmt 10 Mal ins Kino gerannt, nur um Richard Gere zu sehen.“
Nora verdrehte die Augen. Sie wollte nicht an all die romantischen Phasen in ihrem Leben erinnert werden. Romantik hatte sie sich längst abgeschminkt.
„Susi, was sind die wahren, echten, wichtigen Momente im Leben? Die Zeiten, in denen es einem gut geht, oder in denen es einem schlecht geht? Was ist Illusion, was ist Wahrheit, Wirklichkeit?“
Susanne starrte Nora an. Dann murmelte sie, dass sie sich noch was zu essen und zu trinken holen wolle und stand auf.
Als sie wieder zurück kam, fing Nora schon wieder an mit ihren lästigen Fragen, die keinen Platz in Susannes Leben hatten.
„Und was ist echt? Sind die Träume echt, oder sind es die Zeiten zwischen den Träumen? Träume haben keinen Zusammenhang, die aktiven Zeiten schon … zumindest auf den ersten Blick. Aber was ist, wenn in Wirklichkeit nicht immer logisch das eine auf das andere folgen müsste: aufstehen, zur Arbeit gehen …!“
„Nora, ich mache mir wirklich Sorgen um dich! Nimmst du eigentlich noch irgendwelche Medikamente? Was haben die im Krankenhaus nur mit dir gemacht?“
Dann stutze sie.
„Du nimmst doch nicht etwa Drogen?“
Nora schüttelte verschmitzt den Kopf und begann zu kichern. Sie schien plötzlich alles lustig zu finden.
Der Hund am Nachbartisch schaute irritiert herüber.
Nora winkte ihm freundlich zu.
„Ja, was bist du denn für einer? Schönes Tier, braves Tier …!“, sagte sie leise in die Richtung des Hundes. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.
„Was würde ich nur ohne dich tun, Susi! Du hast recht! Wir sollten mal wieder tanzen gehen! Nur: Wo lassen die so alte Nilpferde wie uns noch rein?“
„Vielleicht kommen Gudrun, Sylvia und Eva mit? Ich fahre!“
Wie nicht anders zu erwarten, hatten die anderen jedoch längst etwas anderes vor und so machten sich Susanne und Nora alleine und ziemlich lustlos auf den Weg.
Am Samstagabend, eine viertel Stunde nach dem verabredeten Zeitpunkt, klingelte Nora bei Susanne.
Nora hatte sich zunächst stundenlang herausgeputzt, um sich dann doch gegen ihr viel zu enges, schwarzes Kleid und die hochhackigen Schuhe zu entschieden. In abgewetzten Jeans und in ihrem Lieblings-T-Shirt fühlte sie sich wesentlich wohler.
Susanne war auch nicht besonders schick, zumindest hatte sie sich geschminkt. Auch auf ihren Schneidezähnen befand sich knallroter Lippenstift. Sie begrüßte Nora mit einem Glas Sekt und bat sie, noch kurz zu warten, weil sie angeblich noch ihre Haare zu Ende föhnen musste.
Nora konnte, während sie wartete, einen kurzen