Eringus, der Drache vom Kinzigtal. Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal - Rainer Seuring


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Magda. “Guck weg“

      „Werde jetzt nicht albern. Mir ist ein nackter Mensch gleich wie ein angezogener. Du wärest nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein. Komm raus und sammle Holz. Ich werde ein Feuer entzünden, damit du dich und deine Kleidung trocknen kannst. Derweil werde ich dir erklären, was nun auf dich zu kommt.“

      Was Magda nicht wissen kann: Sie sind wieder vor der Hecke, vor der sie zuletzt wegen der schlimmen Stimmen und Erscheinungen von Tante und Onkel und allen geflohen war. Allerdings ist die Entfernung noch ausreichend groß, sodass der Abwehrzauber noch nicht wirkt „Wo willst du mich jetzt schon wieder hinführen?“, beschwert sich Magda.

      „Schweig und tu, was man dir sagt.“ So langsam versteht Eringus, mit Magda um zu gehen. Sie beginnt brav, in den nassen Sachen Holz zu sammeln. Als sie versucht, einen kleinen Ast abzubrechen, bekommt sie die angemessene Rüge: „Du sollst sammeln und nicht die Bäume verletzen. Nur Holz, das auf dem Boden liegt.“ Natürlich ist nicht nur trockenes Holz in dem Haufen, den Magda zusammen trägt, trotzdem brennt der kleine Stapel sofort, als Eringus mit kurzem Hauch das Holz entzündet. Und es qualmt seltsamer Weise nicht. Ein wenig zitternd und nackt sitzt sie davor und trocknet ihre Kleidung, die sie an einem langen Ast über dem Feuer schwenkt.

      „In wenigen Schritten werden wir das Dorf der Halben erreichen. Doch sie wissen sich zu schützen. Sieh dich doch einmal um. Kennst du die Gegend?“ Aus Magdas Träumen wussten Eringus und Jade um die Visionen, die die junge Frau beim ersten Mal hier hatte.

      „Der Bach kann jeder Bach sein, aber ich glaube die Hecke da vorne, die habe ich schon einmal gesehen.“ Dann kommt auch Magda wieder die Erinnerung. „Oh nein, da geh ich nicht rein.“ Die Angst vor dem Grafen und all denen, die sie gesehen hatte, kommt wieder hoch.

      „Du brauchst keine Angst zu haben. Keine der Personen, die du glaubtest zu sehen, ist wirklich dort. Das war die Wirkung des Schutzzaubers, der jedes Dorf der kleinen Leute umgibt. Er soll Fremde, die nicht willkommen sind, vom Dorf vertreiben und ihnen die Lust nehmen, dort noch einmal hin zu gehen.“

      „Das kann der Zauber aber gut. Ich will da nicht hin!“

      „Bleib nur ruhig und hör mir zu. Wenn du den Zauber wieder spürst und die Stimmen oder Bilder wieder kommen, musst du nur denken: Freund des Waldes. Ganz fest musst du das denken. Dann wird der Zauber aufhören. Danach will dich die Hecke noch abwehren. Sie ist undurchdringlich und wehrhaft, denn auch sie ist magisch verstärkt. Manche der Äste tragen Dornen und die Büsche sind durchaus in der Lage, nach dir zu schlagen, kommst du in ihre Reichweite. Vorsicht, denn einige haben sehr lange Äste. Wenn wir dann also vor der Hecke stehen, musst du denken: Willkommen bei den Halblingen. Dann wird sich die Hecke für dich öffnen und du kannst in das Dorf.“ Eringus Tonfall ist eindringlich und mahnend. „Das musst du lernen und dir gut merken. Ich werde nicht immer bei dir sein, wenn du das Dorf verlässt und wieder hinein willst. Wiederhole bitte.“

      „Freund des Waldes denken, wenn der Zauber anfängt und Willkommen bei den Halblingen, wenn ich vor der Hecke stehe. Richtig?“, wiederholt Magda brav.

      „Gut so. Stell es dir aber nicht so leicht vor. Gerade der Zauber wird deine ganze Geisteskraft in Anspruch nehmen, bis du es richtig gelernt hast. Wenn du trocken und wieder angekleidet bist, setzen wir unseren Weg fort.“

      Es dauert noch ein wenig, bis Magda ihre Kleider wieder anziehen kann. Eringus tritt das Feuer aus und geht voran. Sie folgt ihm, aber die Aufregung steigt. Obwohl der Drache sie vorbereitet hat, wird Magda zunehmend nervöser. Und dann spürt sie es. Langsam und leise klettern die Stimmen wieder in ihren Kopf. Diesmal hört sie zuerst Hermann, den Sohn. „Na, du Schlange, versuchst du es noch einmal? Ja, komm doch. Komm nur her. Wir warten schon auf dich.“ Wieder spürt Magda diese beklemmende Angst und den dringenden Wunsch, umzukehren. Nur schwer gelingt es ihr, an die Anweisungen von Eringus zu denken. Wie war das? Freund der Halben? Nein! Wald der Freunde? Auch nicht. „Du zögerst?“ Das war der Graf. Magda ist stehen geblieben, weil sie krampfhaft versucht, sich an Eringus Worte zu erinnern. „Lass mich in Ruhe!“, antwortet sie der Stimme in ihrem Kopf trotzig. Verdammt, das muss ihr doch wieder einfallen. Aber jetzt: „Freund des Waldes!“. Sie ruft es lauthals in Richtung Hecke. Augenblicklich sind die Stimmen des Grafen und seines Sohnes verstummt. Unendliche Erleichterung. Magda atmet sichtlich auf. Das war geschafft.

      Gespannt hat Eringus die Szene beobachtet und in Magdas Gedanken mit gelesen. Er wollte ihr nicht helfen, auch wenn er es gekonnt hätte. Sie sollte es lernen, also hat er abgewartet. Jetzt, da sie wieder weiter geht, wendet auch er sich um und geht die letzten hundert Menschenschritte zur Hecke. „Sieht das nicht schön aus, Magda? Das ist Lindenbach.“

      Magda gibt ihm keine Antwort, denn sie sieht nichts. Das Gestrüpp vor ihr ist unüberwindlich hoch und so dicht, als würden die Zweige der Büsche ineinander greifen, um keinen auch nur einen Fuß weit hinein zu lassen. Jetzt ist es also Zeit für das zweite Losungswort. Wie lautete das jetzt noch mal? Sie kratzt sich am Kopf. Das ist schwer. Doch, ja, es heißt Willkommen bei den Halblingen. Nun hat Magda nicht gerufen, sondern nur gedacht. Die Büsche lösen ihre verschlungenen Zweige und geben den Weg frei für sie. Eringus hingegen braucht das nicht. Er steigt einfach über die Hecke hinweg. Vor Magda liegt eine große Lichtung und mitten drin das Dorf der Halblinge.

       Was Magda erst später erkennen wird, sei hier vorweg genommen. Die ganze Lichtung ist etwa einen Morgen groß. Das Dorf Lindenbach selbst besteht aus 28 kleinen Hütten, die so angeordnet und mit kleinen Zäunen eingefasst sind, dass von oben gesehen das Bild eines vierblättrigen Kleeblattes entsteht. In den kleinen Gärtchen um die Häuschen werden viele zierliche Blümchen gepflegt. Manche Halblinge nutzen dies auch gerne als Hinweis, wer hier zu Hause ist. Hier wohnt Familie Krokus, dort lebt Familie Veilchen. Grenzwertig ist die Blumenpflege bei Familie Distel. Da wachsen die Blüten auch schon mal über den Kopf der kleinen Menschen. Kürzlich hat Herr Sonnenblum es sehr übertrieben. Man stelle sich vor: Neben dem Haus, das bis unters Dach höchstens drei und einen halben Fuß hoch ist, wollte er tatsächlich drei Sonnenblumen groß ziehen. Da hat ihm Linda Malve aber etwas erzählt. Ganz entrüstet hat die Frau des Dorfmeisters darauf bestanden, dass die Blumen gefällt würden. Beim nächsten Sturm wären die inzwischen schon beachtlich hohen Sonnenblumen sicherlich umgefallen und hätten Schaden im Dorf angerichtet. Traurig hat Herr Sonnenblum dann geholfen, seine Prachtstücke nieder zu machen. Jetzt versucht er, kleinere Ausführungen zu züchten. Bislang aber leider nur mit wenig Erfolg.

      In der Mitte des Dorfes stehen die Bänke. Hier trifft sich das kleine Volk zu gemeinsamen Mahlzeiten und bespricht, wer wann welche Arbeiten übernimmt. Küchen gibt es nicht in den Häusern, nur Schlafkammern für die Eltern und die Kinder. Alles wird zusammen auf diesem Versammlungsplatz zubereitet und verzehrt. Natürlich gibt es auch die notwendigen Tische, doch diese noch in den Namen als Versammlungstische und Versammlungsbänke aufzunehmen, ist entschieden zu lang und umständlich. Man sprach allenthalben nur von den Bänken. Hinter dem Sitzplatz des Dorfmeisters und dessen Frau steht der einzige Baum innerhalb des Dorfes. Ein großer und uralter Baum, dessen weitläufiges Geäst Schatten über alle Bänke werfen kann. Sollte das Wetter es nicht erlauben draußen zu sitzen, haben die Halben gegenüber den Bänken, also auf der anderen Seite des Baumes, ihr großes halbrundes Versammlungshaus errichtet. Damit ist der gesamte Innenraum in der Mitte der Häuschen gänzlich aufgeteilt. Rund um das Dorf haben die Halblinge einen Graben ausgehoben und den Bach eingeleitet. Es gibt genau vier Brücken aus dem Dorf heraus zu den Feldern, Scheunen und Ställen. Streng dem Bild des Kleeblattes entsprechend. Neben den Ställen, in denen die Tiere wirklich nur sehr selten sind, grasen die Ziegen und Schafe auf weitläufigen Wiesen. Es sind ausgesprochen kleine Tierrassen und trotzdem sind die Halblinge kaum sehr viel größer, als ihre Tiere. Zwischen den Weiden befinden sich die Gemüsefelder und hinter den Wiesen und Gemüseflächen liegen die Getreidefelder, die sich fast bis an die große Hecke ausdehnen. Dadurch ist entlang der Hecke rund um die Siedlung ein breiter Weg, den auch Eringus nutzen kann. Alles ist auf wohl gepflegten Wegen, gesäumt von Bäumen, zu erreichen. Gerne werden auch flache Hecken als Grenzen zwischen den Feldern und Ställen gepflanzt. Alles macht einen sauberen und mit Liebe gehegten Eindruck.

      Eringus


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