Nocturnia - Die langen Schatten. Torsten Thoms

Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms


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Granit, der phraktenhoch aufgetürmt und ohne Zement oder Mörtel so perfekt gearbeitet war, dass keine Messerklinge zwischen die Ritzen passte. Auch das war eines der Geheimnisse der Vergangenheit, denn wer diese Mauer vor Urzeiten errichtet hatte, wusste niemand. Sie erfüllte ihren Zweck, als sich die Gesellschaft der Nocturnen geteilt hatte und die Namenlosen sich in dieses Getto der Unterstadt pferchen mussten, wo die Hochgeborenen sie gut kontrollieren konnten. Ein unentrinnbarer Ort, eng und düster, voller Sorge und Hoffnungslosigkeit.

      Naxbil ging langsam durch die Säle des Höhlensystems. Hier unten war es völlig still. Er genoss die Ruhe für einen Moment, denn gleich würde er in einen Tumult stürzen, den Nocturnen in der Oberstadt niemals für möglich halten würden. Er näherte sich seinem Ziel, dem Ausgang. Trotz aller Enge in der Unterstadt hatte noch niemand den Eingang zum Tunnelsystem gefunden. Er lag gut versteckt direkt am unteren Ende der Stadt, an der unüberwindbaren Mauer. Auch hier lag ein riesiger Fels, scheinbar so gewaltig und fest, dass sich niemand je die Mühe gemacht hatte, ihn zu bewegen. Vorsichtig schob Naxbil den Stein nach vorne, späte hinaus. Niemand war dort, denn es gab keinen Grund, sich in diese finsterste Ecke der Stadt zu verlieren. Er verschloss den Eingang wieder, der nicht zu erkennen war, es blieb ihm nur wenig Platz zwischen dem Felsen und der Mauer. Dann stand er auf einer immer noch schmalen Gasse, der Lärm der Unterstadt drang bis zu ihm hervor.

      Naxbil fegte den Staub von seiner Torgu, jetzt konnte die Nacht für ihn beginnen. Er fühlte sich wie neu geboren, nichts belastete ihn hier unten. Niemand interessierte sich dafür, wer er war oder was er getan hatte. Es war eine Form der Freiheit, die ihn mit den Namenlosen auf eine Stufe stellte, deren Recht auf Vergnügen er jetzt voll auskosten wollte. Auf den düsteren Straßen tobte das Leben. Da zurzeit keine öffentlichen Aufgaben für die Hochgeborenen zu erledigen waren, befand sich fast jeder Namenlose in der Unterstadt. Naxbil blickte auf die gleiche Rasse, aus der er auch stammte. Nur sah sie anders aus. Noch blasser, die meisten von der Armut ausgezehrt. Viele waren verstümmelt, durch Unfälle auf den Baustellen fehlten Arme und Beine. Auch Krankheiten hatten ihren Zoll gefordert, besonders die gefürchtete Yochratis, bei der sich die Augenhöhlen entzündeten und, unbehandelt, unweigerlich zum Verlust der Augäpfel führte. Viele Blinde liefen in den Straßen umher, umsorgt von den Sehenden. Naxbil wunderte sich immer über diese Form des Zusammenhalts, denn wenn jemand in der Oberstadt so krank würde und betteln müsste, wurde er selten beachtet, meist wegen seiner Schwäche von denen ausgelacht, die sich insgeheim vor der Krankheit am meisten fürchteten.

      Das Schicksal der Einzelnen jedoch schien hier aufzugehen in etwas Größeres, auch wenn er sich wenig für die Gesellschaft in der Unterstadt interessierte. Eines jedoch liebte er: die Anonymität, die hier unten herrschte. Jeder ließ jeden gewähren, urteilte nicht, somit konnte sich auch Naxbil frei bewegen, ohne dass ihn jemand zur Rechenschaft zog. Wäre es anders gewesen, hätte Naxbil dieses Doppelleben niemals führen können. Er kannte ein Haus der besonderen Art, auf das er jetzt ohne zu zögern zusteuerte. Hier trafen sich die besonders Jungen, die allerdings auch hier schon die Reife der Jahre in ihren Gesichtern trugen. Er wirkte trotz der Tatsache, dass er etwas älter war, ausgesprochen jugendlich, was ihm half, auch hier das zu bekommen, was er wollte. Er spendierte großzügig einige Arcinmünzen, die die namenlosen Nocturninnen zu Höchstleistungen anspornten. Doch gab er niemals zu viel, denn das hätte ihn unweigerlich verraten. Als er an dem Haus angelangt war, blieb er kurz davor stehen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, der ihn immer überkam, wenn er dort stand. Es war ein unscheinbares, windschiefes Gebäude, weit abseits der Hautstraße, wohin sich kaum noch ein Nocturn verirrte, wenn er nicht direkt danach suchte. Der Putz fiel bereits von den Wänden und die Fenster waren durch zentnerschwere Steine vermauert. Hätte er es nicht besser gewusst, wäre Naxbil weiter gelaufen, in der Annahme, dass hier sicher niemand wohne. Doch das war ein Trugschluss. Er klopfte dreimal leise an die knorrige, mit Eisen beschlagene Holztür. Geräuschlos öffnete sich eine winzige Luke, die kaum größer als einige Recken war. Naxbil griff in seinen fast leeren Geldbeutel und warf eine einzige Münze hinein, für einen Namenlosen ein halbes Vermögen. Er hörte, wie das Geldstück auf den harten Boden aufschlug. Jemand bewegte es dort hin und her, als wenn er kontrollierte, ob es auch echt sei. Dann wieder Stille. Nichts rührte sich. Naxbil kannte das Spiel, er wusste, dass er nun eine Minute warten musste. Er war sicher, dass er beobachtet wurde. Nach einer kleinen Ewigkeit knarrte es mächtig und die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Naxbil schob sie vollends auf. Niemand befand sich dahinter. Schon lange fragte er sich nicht mehr, wer hier eigentlich den Türsteher mimte. Er trat ein, diesmal schloss sich die Tür lautlos, kein Knarren oder Ächzen. Durch einen langen Korridor lief er in das Haus hinein, kam in ein Vorzimmer. Dort streifte er die Torgu ab, war bereits sichtlich erregt von der Vorfreude. In dem Raum hingen an alten, hölzernen Haken bereits sicher drei Dutzend Torgus, ein gutes Zeichen, denn das Haus war gut besucht. Das Schöne an der Geschichte war, dass immer mehr Nocturninnen anwesend waren als Nocturnen. Warum wusste er nicht und es war ihm auch einerlei. Denn das führte immer zu Möglichkeiten, die Naxbil besonders mochte. Hier konnte er seine intimsten Leidenschaften ausleben. Hier geschahen Dinge, die bei den Hochgeborenen mit den übelsten Strafen belegt wurden. Eigentlich war es ein Wunder, dass seine drei Bräute überhaupt noch auf freiem Fuß waren, nachdem er sie zu diesen Handlungen gezwungen hatte. Gerade weil er sicher war, dass zumindest eine von ihnen die verbotenen Spiele genossen hatte.

      Jetzt trat er ein in die hinteren Gemächer, die seiner Berechnung nach alle in den Kellergewölben liegen mussten. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er fand, was er wollte.

      Kapitel 5

      Vincus spähte noch immer durch das Guckloch in das Zimmer nebenan. Er hatte den Standort schlecht gewählt, denn er konnte kaum ein Wort verstehen, sah die Drei aber lebhaft diskutieren. Allein die Tatsache, dass es bereits Stunden her war, seit er den Raum versiegelt hatte, deutete darauf hin, dass Juchata sich noch lange nicht entschieden hatte. Wusste sie wirklich, was zu tun war? Er hatte fest damit gerechnet, dass sie spätestens jetzt verstanden haben müsste. Er war sich sogar völlig sicher. Warum also zog sie das Unvermeidliche so sehr in die Länge? Nachdenklich nippte der Alte an seinem Wasserglas. Miesta hatte er nicht angerührt, da er spürte, dass er in dieser Nacht noch alle seine Sinne brauchen würde. Auch die Mitglieder der anderen Familien waren nicht mehr so entspannt wie am Anfang der Nacht. Selbst dem alten General Pelleus, der in so vielen Schlachten mit den Namenlosen sein Leben riskiert hatte, merkte man die Nervosität an. Er trank ein Glas Miesta nach dem anderen und langsam verlor er die Kontrolle über seine Zunge, die ganz offensichtlich immer schwerer in seinem Mund lag und nur noch selten seinen Befehlen gehorchte.

      Während Pelleus sich auf diese Weise Entspannung verschaffte, trank Pelates ebenfalls nur Wasser. Seine Nervosität zeigte sich nur durch das stärkere Lispeln, ein untrügliches Zeichen für Anspannung, das Vincus sofort bemerkte. Es war einer der Gründe, warum sich Pelates bei Kampfdiskussionen, wie sie öfter vorkamen, ungewollt verriet. Kein Nocturn würde ihm Ärger jemals ansehen, es war nur diese Nuance, sein Sprachfehler, der ihn die Größe kostete, die er sich erhoffte. Pelates wusste es und er wusste auch, dass Vincus es bemerkte, zu lange schon waren sie die vertrautesten Feinde. Jetzt, in diesem Moment, gab er sich keine Mühe, das nervöse Lispeln zu unterdrücken, weil es ohnehin keinen Sinn machte, denn selbst in all den Jahren hatte er es trotz intensiven Trainings nicht geschafft, diesen Sprachfehler gänzlich loszuwerden. Allenfalls konnte er sich selbst täuschen, doch dazu fehlte ihm im Moment jegliches Verlangen. Ketauro, im Gegensatz zur generellen Nervosität, wirkte bereits sichtlich gelangweilt und konnte nur mit Mühe verbergen, dass er sich langsam lieber in eines der örtlichen Etablissement begeben würde, in denen, völlig im Geheimen und somit legal, die schönsten Namenlosen ihre Körper anbieten mussten. Gezwungenermaßen natürlich, so war es für die Unglücklichen eine Bürde, schön geboren zu werden, auch wenn viele das nicht mehr so sahen. Wem sie sich hingaben, spielte keine Rolle mehr, denn dort hatten sie wenigstens keinen Hunger zu leiden. Jeder der Hochgeborenen kannte die Etablissements, die viele Hochgeborenen nutzten. Erst in der Jugend, bevor sie sich verheirateten, später heimlich, auch wenn jeder wusste, was in diesen Häusern direkt an den Toren zur Unterstadt geschah. Für hochgeborene Nocturninnen gab es solcherlei Zerstreuung nicht, sie mussten sich mit dem begnügen, was die Namenlosen ihnen übrig ließen. Es war seit Jahrhunderten so und beinahe schon Tradition.

      Für


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