Die Probanden. Michael Bardon

Die Probanden - Michael Bardon


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zu kümmern. Mit ihren kräftigen Händen trägt sie ein Tablett, auf dem dampfende Teller mit Schweinsbraten und Semmelknödeln stehen. »Habt’s Hunger?«, fragt sie lachend, während sie das Serviertablett mitten auf dem Tisch stellt. »I hob euch ’nen leck’ren Schweinsbraten g’mocht. Macht’s mal en Pausen vom Kartenspül un stärkt’s euch erstma. Auffi geht’s …«, sagt sie, während sie die ersten drei Teller auf dem Tisch verteilt.

      Schlagartig erwacht Steffens Hungergefühl zum Leben. Frischer Schweinsbraten, mit leckerer Soße, Blaukraut und Semmelknödeln. Dafür würde er sich glatt noch einmal die verschneite Pass-Straße hinaufquälen. Vergessen sind die Strapazen. Vergessen sind der Ärger und die Angst. Vor ihnen liegen noch dreizehn wunderbare Urlaubstage, von denen er jeden einzelnen – in vollen Zügen – genießen will.

      -5-

      »Ist ein bunter Haufen, den uns die Lange da herangeschafft hat. Bin gespannt, ob sie unsere Erwartungen auch erfüllen.«

      »Ich mache mir da keinerlei Illusionen. Auf den ersten Blick sehen sie fast alle ganz brauchbar aus, aber sobald es ernst wird, trennt sich die Spreu vom Weizen, ziemlich schnell. Das wird bei diesen Probanden wohl auch nicht anders sein.«

      »Ja, leider. Mit Ausfällen muss man halt immer rechnen. Die wenigsten können der psychischen Belastung lange standhalten.«

      »Wie sollten sie auch. Sie erleben hier eine Grenzerfahrung, die mit dem normalen Leben nur sehr wenig gemein hat. Manchmal frage ich mich wirklich, ob unsere Arbeit überhaupt noch sinnig ist.«

      »Ernsthaft jetzt?«

      »Ja! Hat sich Ihnen diese Frage denn noch nie aufgedrängt?«

      »Wenn ich ehrlich bin … Nein! Noch nie.«

      »Mir schon. All die Pein, all die Verzweiflung. Manchmal tun mir die Probanden wirklich leid. Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, Tim. Ich weiß selbst, dass man im Namen der Forschung Opfer bringen muss. Dennoch frage ich mich in letzter Zeit immer öfter, ob diese Versuchsreihe ethisch überhaupt noch vertretbar ist.«

      »Natürlich ist sie das! Von unseren Ergebnissen profitiert ja nicht nur die Pharmaindustrie. Nein! Denken Sie zum Beispiel an die Polizei-Profiler, die dank unseres Wissens gemeingefährliche Psychopathen aus dem Verkehr ziehen. Oder denken Sie an unsere Geheimdienste oder an das Militär. Psychologische Kriegsführung ist heutzutage ein fester Bestandteil einer gut geführten Armee und fast ebenso wichtig wie ein modernes Waffenarsenal. Nein! Ich denke, dass Ihre Zweifel wirklich unbegründet sind.«

      »Denken Sie?«

      »Ja! Wir sind Wissenschaftler, Forscher, sind Pioniere der modernen Medizin. Wir quälen die Menschen nicht, weil es uns Spaß macht, sondern weil wir für eine bessere, eine sichere Gesellschaft forschen. In ein paar Jahren werden wir hoffentlich in der Lage sein, Psychopathen oder andersartig veranlagte Menschen schon im Ansatz zu erkennen und zu eliminieren. Wir werden ein Leben ohne Hass, Gewalt oder sexuelle Übergriffe führen. Das ist unser Antrieb, das ist doch der Grund, warum die Stiftung diese Versuchsreihe überhaupt ins Leben gerufen hat.«

      »Das sage ich mir ja auch immer wieder. Dennoch … manchmal quälen mich Zweifel und etwas in meinem Inneren scheint gegen diese Art der Forschung aufzubegehren.«

      »Hm …, das klingt jetzt ja fast so, als wollten Sie aus dem Programm aussteigen …«

      »Aussteigen? Ich? Nein, auf keinen Fall. Das hier ist mein Leben. Mein Lebenswerk. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber solange meine grauen Zellen noch mitspielen, werde ich die Versuchsreihe auch fortführen. Das steht außer Frage.«

      »Dann ist es ja gut. Für einen kleinen Moment dachte ich schon, ich müsste mich nach einem neuen Kollegen umsehen. Sie wissen ja selbst, wie schwierig sich das gestalten würde. Die Forschung ist nicht jedermanns Sache und solch ein Projekt verlangt nach viel Disziplin und noch mehr Verschwiegenheit. Da kann man nicht den Erstbesten nehmen. Hier geht es um Vertrauen, Tüchtigkeit und bedingungslose Loyalität. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen, das wissen Sie selbst, besser als jeder andere …«

      -6-

      Als Steffen am nächsten Morgen erwacht, spürt er einen pochenden Schmerz hinter der rechten Schläfe.

      Zu viel Jagertee, zu viele Runden hausgebrannten Obstlers, denkt er, während er angeekelt das Gesicht verzieht. Mannomann, was hatten sie am Vorabend einen draufgemacht. Nach dem Essen, das wirklich lecker geschmeckt hatte, war der Hölzle-Bauer, er hieß Josef, bei ihnen in der Gaststube erschienen. Nur wenige Minuten später stand die erste Flasche Kirschwasser auf dem Tisch und der lederne Knobelbecher – auf Neudeutsch: Würfelbecher – wurde gut gelaunt hervorgeholt. Es wurde geschüttelt, gewürfelt, gelacht und getrunken. Der Ausgang ihres feuchtfröhlichen Knobelbecher-Abends war vorhersehbar gewesen und würde bestimmt heiteren Anklang bei ihren Freunden zuhause finden.

      Großer Gott, das dumpfe Pochen unter seiner Schädeldecke wurde immer schlimmer. Hoffentlich hatte Kirsten an die Kopfschmerztabletten gedacht. Er war doch extra noch bei der Apotheke vorbeigefahren und hatte zwei Schachteln besorgt. In die Küche hatte er sie gelegt. Auf den Küchentisch. Mitten drauf. Die konnte Kirsten beim Kofferpacken eigentlich gar nicht übersehen haben. Oder vielleicht doch?

      Egal, da musst du jetzt durch. Wer abends saufen kann, muss am nächsten Tag mit den Folgen leben, denkt Steffen, während er vorsichtig die Augen öffnet. Gleißender Sonnenschein, kalt und unbarmherzig. Frostblüten glitzern auf der verschmierten Glasscheibe. Ein herabhängender Eiszapfen, armdick, nach unten wie ein Dolch spitz zulaufend, schwebt scheinbar schwerelos vor seinem Fenster. Kein Schneetreiben mehr. Keine Wolken am Himmel. Nur die verdammte Sonne, die ihm wie ein Tausend-Watt-Strahler ins Gesicht scheint.

      Mit einem Ächzen schiebt er die dicke Daunendecke zur Seite und schaut auf seine Armbanduhr. 8.23 Uhr, Zeit zum Aufstehen.

      Eine leichte Bewegung neben ihm lässt ihn für einen Moment innehalten. »Nur noch fünf Minuten …«, nuschelte Kirsten verschlafen, die hübschen, braunen Augen fest zukneifend.

      »Schlaf weiter, mein Schatz. Es ist noch früh«, flüstert Steffen, während er die Beine aus dem Bett schwingt. Undefinierbares Gebrabbel neben ihm, ein Seufzen, Bewegungen unter der dicken, hässlich geblümten Daunendecke. Steffen hebt fröstelnd seine Schultern, während er sich suchend im Zimmer umschaut.

      »Arschkalt hier, das wird Kirsten gar nicht gefallen«, murmelt er gedankenverloren vor sich hin.

      Das ausgelassene Lachen zweier Frauen treibt ihn ans Fenster. Das Licht blendet ihn und er fragt sich, ob er seine Sonnenbrille überhaupt eingepackt hat? Wenn nicht, hat er ein echtes Problem. Verdammter Schnee, verdammter Kater, verdammte Sonne … Jenny und Luisa stehen unter seinem Fenster. Dick vermummt mit Mütze, Schal und Handschuhen. Kleine Atemwölkchen steigen aus ihren lachenden Mündern auf – es muss wirklich kalt da draußen sein. Seine Augen schweifen über die schneebedeckten Berge. Ein kleiner Teich fällt ihm auf; er scheint zugefroren. Abermals ein Lachen. Luisa und Jenny stehen neben einem gut zwei Meter großer Schneemann und fotografieren sich gegenseitig. Der Mann aus Schnee starrt zu ihm hinauf. Eisiger Blick, übergroße Karottennase, bunter Schal um den dicken Hals. Irgendwie gruselig, findet Steffen.

      Erst mal ins Bad. Eine Runde Duschen und die Zähne putzen. Der Geschmack in seinem Mund ist widerlich. Hoffentlich ist das Badezimmer wenigstens geheizt, denkt er sich, während er seine Kleidung vom hölzernen Dielenboden aufklaubt. Ihr Zimmer liegt im zweiten Stock des Haupthauses, das Gemeinschaftsbadezimmer befindet sich ein Stockwerk tiefer. Kein Problem, ist ja nur für einen Morgen. Ihr Ferienhaus oder besser gesagt: ihre Almhütte verfügt auch nur über zwei Bäder. Da müssen sie sich schließlich auch irgendwie arrangieren. Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben, denkt er und schmunzelt. Wahrscheinlich wird die Rolle der ewigen Letzten seiner Frau zufallen. Steffen kennt niemanden, der so lange schlafen kann wie Kirsten.

      Wer schläft, sündigt


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