GIFT geschädigt. Maxi Hill

GIFT geschädigt - Maxi Hill


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wenn die Ferien vorbei waren. Noch bevor er die Schule betrat waren seine Gedanken beim neuen Lehrplan, dem er nichts abgewinnen konnte, außer einem lässigen Heben seiner Schultern. Manchmal gab er Aaron Recht wenn der sagte, er sei ein Pommer und deshalb stur. Selbst dieser idiotische Lehrplan brachte ihm keinen inneren Aufruhr. Diese Pottschieter da oben im Ministerium waren seit Jahren unfähig, die Bildung in den Griff zu bekommen. Ein erfahrener Pauker wie er entschied seit Langem selbst, was den Schülern nutzte und was er getrost beiseitelassen konnte. Es gab kein Zentralabitur mehr, er schrieb die Abituraufgaben selbst und reichte sie zur Bestätigung ein. Erfahrung ist des Skippers bester Kompass und Erfahrung hatte er.

      Zum ersten Mal in diesem Sommer hingen die Wolken tief, als stünde Nebel in der Luft. Inka, seine Frau, zählte gewöhnlich die Tage vom ersten Nebel bis zum ersten Schnee. Einhundert. Also müsste es Mitte November schneien? Schrimp grinste in sich hinein. Sonderbare Regeln stellte Inka manchmal auf. Erst kürzlich hatte sie das Schlafzimmer auf den Kopf gestellt, ihre Nase in alle Fächer und Schubladen gesteckt, die Flächen mit feuchten Tüchern bearbeitet, um Resten von Formaldehyd auf die Spur zu kommen. Es sei gefährlich, die Nacht mit dem giftigen Zeug zu verbringen. Formaldehyd sei gefährlich. Als ob er das nicht selber wüsste, er, der Biologe.

      Sie hatte kein Formaldehyd geschnüffelt, also zwang sie ihn, die Betten im Neunzig-Grad-Winkel zu drehen, weg mit den Kopfenden von elektrischen Leitungen. Elektrosmog könnte Schuld an ihrer Migräne sein und an ihrer Schlafstörung. Die Hightech-Gesellschaft fordere ihren Tribut. Keiner kenne sein Lebensrisiko. Tausende synthetische Stoffe griffen in die biologischen Lebenssysteme ein. Sogar Mikrowellen brächten die biochemischen Stoffwechselprozesse in gefährlicher Weise durcheinander, hatte Inka gemeint und eine solche Anschaffung strikt abgelehnt. Es war nicht zu bezweifeln: Technische Errungenschaften steigerten den Konsum. Das Paradoxe am Fortschritt war der partielle Rückschritt.

      Schrimp fiel es auf einmal schwer zu verstehen, warum er sie sauertöpfisch genannt hatte. Schließlich ging es vielen Menschen ähnlich. Jahrzehnte lang rußten die nahen Kohlekraftwerke ihren braungelben Rauch aus maroden Schloten über das Land, schwärzten die prächtigen Hausfassaden aus vielen Epochen und brachten sie zum Bröckeln. Die Schlote haben ausgehaucht und auch die schweflige Luft vom Gaskombinat Schwarze Pumpe hatte sich verflüchtigt, aber die Menschen der Lausitz klagten über allerlei Gebrechen, junge wie alte.

      Der Zehntklässler Sebastian klagte sehr oft über Kopfschmerzen und Übelkeit. Im letzten Schuljahr verging kein Tag, wo der Junge nicht seinen Kopf in den Nacken legte, um das Blut zu stoppen, das ihm zuweilen aus den Nasenlöchern quoll. Schrimp meinte eine Zeitlang, Sebastian sei zu ehrgeizig und habe zu viel um die Ohren. Mehrmals in der Woche marschierte er zur Musikschule, zweimal zum Karate-Training und dann noch die Auftritte mit seiner Band, deren Name ihm mal wieder nicht einfiel. Irgendetwas wie Eichenlaub.

      Schrimp hatte stets ein Ohr für seine Schüler, aber er verstand die allzu ehrgeizigen Eltern nicht, die ihren Kindern zu viel abverlangten, gerade, weil sie in diese Schulen gingen. In dieser Gesellschaft könne man nie genug können. Als ob das ein Pauker infrage stellte.

      Ein Gedanke klemmte in seiner Brust. Was, wenn er nicht an diese Schule gekommen wäre, damals, als die Welt sich wendete. Nicht nur dieses Land hatte sich gewendet. Es war die Welt, deren Waagschale sich zur untergehenden Sonne neigte. Diese Neigung brachte Gutes und weniger Gutes. Ihn hatte das Gute getroffen. Manchmal gruselte ihn bei dem Gedanken, jeden Morgen in eines dieser alten Backsteinbunker gehen zu müssen, der womöglich die vorletzte Jahrhundertwende miterlebt hatte. Diese hohen, kalten Räume, diese schallenden Laute auf den Gängen, dieses Gefühl klösterlicher Kreuzgänge. Doch das war es nicht allein. Diese, seine Schule, war nicht nur modern. Sie war die Eliteschule der ganzen Region. Hohes Lern-Niveau, hoher Lehr-Anspruch und eine »hohe Hemmschwelle für schlechte Disziplin«. Schrimp grinste. Diese Worte hatte Aaron Barthels geprägt, und ausgerechnet die nahm der ganze Lehrkörper in den Mund, der ansonsten von Aaron Barthels kaum etwas zur Kenntnis nahm. Aaron war seit einiger Zeit als Spinner verschrien. Seine Warnung über die schlechte Luft in der Schule wollte niemand hören. Nicht einmal die Schüler zollten ihm noch den gewohnten Respekt. Im Gegenteil. Hinter vorgehaltener Hand bezeichneten sie ihn als senil, seines bröckelnden Gedächtnisses wegen, für das auch Schrimp keine Erklärung fand.

      Das Glas der Außentür war klar und kalt. Am Ende der Woche würden die Spuren unzähliger Hände den Durchblick wieder erschweren. Vor der Tür senkte sich die feuchte Luft zu Boden, dahinter erhob sich hell und warm die gelbe Wand der Eingangshalle zur Begrüßung, freundlicher als an allen anderen Schulen dieser Stadt.

      Schrimp ging in langen Schritten die Treppe hinauf. Der Geruch von Farbe stand in den Gängen und im Treppenhaus. Der süßliche Geruch von Terpentin mischte sich mit jenem widerlichen Dunst, den Schrimp nicht ertragen aber auch nicht erklären konnte. Obwohl er vor langer Zeit die Lehrfächer Biologie und Chemie studiert hatte, kannte er keinen vergleichbaren Geruch. Auch der hauptamtliche Chemiker der Schule, Sven Krüger, der trotz seiner Jugend zum stellvertretenden Direktor avancierte, winkte nichtssagend ab. Schrimp konnte auch Krügers Verhalten nicht deuten. Möglich, er war den Gerüchen längst auf der Spur. Wahrscheinlich aber nervte ihn nur die ewige Nörgelei.

      Er hörte die Stimmen einiger Jungen unten an der Eingangstür. Sie stiegen plaudernd die Treppen hinauf und kamen mit schlurfenden Schritten den blank gewischten Gang entlang. Die Gesäßtaschen einiger Hosen hingen tief, zu tief. Die Säume schlappten nachlässig über die Hacken der Turnschuhe.

      »Guten Morgen«, sagte einer und zog beide Hände aus den Hosentaschen. Das war das Erfrischende hier am Konrad-Zuse. Hier konnte man noch Tugenden spüren.

      »Hallo Sebastian«, erwiderte Schrimp. »Wie man sieht, geht 's dir gut.«

      »Na super. In den Ferien immer Schr… Herr Fedder.«

      Schrimp wusste es. In den Ferien ging es dem Jungen zumeist gut. Daran aber lag das Stocken in der Stimme des Jungen nicht. Bei den Mädchen passierte es höchst selten, dass sie seinen Namen nicht über die Lippen brachten. Es störte ihn nicht, wenn auch die Schüler ihn heimlich Schrimp nannten. Alle nannten ihn so. Nur den Respekt durften sie nicht verlieren, und das war nicht mehr selbstverständlich. Schrimp zeigte den erhobenen Daumen und lachte verschlagen:

      »Wollen wir hoffen, dass es so bleibt. Es gibt tolle Projekte in diesem Jahr.«

      »Bei Jugend forscht?«

      »Da auch.«

      Er bewegte den Schlüssel vom Biologie-Kabinett mit einer Drehung und verschwand in seinem Reich.

      Auf dem Flur ein heiseres Krächzen. Es kam näher. Tritte stoppten und etwas kratzte an der Tür. Aaron Barthels stand im Türrahmen, nicht gerade fröhlich. Wer ist schon froh, wenn der Ernst des Lebens wieder losgeht. Die schwierigste Etappe des Schuljahres stand bevor. Bis Weihnachten, dann war das Schlimmste überstanden.

      Es war alle Male auffällig, dass Aaron immer zuerst zu ihm kam, bevor er sich auf den Tag einließ. Daran hatte sich also in den sechs Wochen Ferien nichts geändert. Schrimp schaute ihn an und begriff wohl zum ersten Mal, dass Aaron tatsächlich ein Problem hatte. Wortlos streckte er seine Hand aus: »Wollen wir uns die Arbeit wieder schmecken lassen?«

      »Im Moment schmeckt meine Zunge, als hätte schon jemand darauf rumgekaut.«

      »Man sieht 's.«

      »Was sieht man?«

      »Wenn ich dich ansehe befürchte ich, Gunther von Hagens hat dich auf seiner Liste.«

      Die unbedachte Floskel genügte Aaron offenbar, um trotzig seine Stirn zu heben. Irgendwie hatten sich über die Ferien tiefe Falten eingeritzt, doch das Schimpfen gelang ihm noch. »Mich kriegt keiner zu diesem Leichenfledderer, tot oder lebendig. Diese Gesellschaft darf nicht alle Tabus brechen?«

      Auch wenn Schrimp ihm zustimmen möchte, auch wenn er mit Aaron zum Für und Wider über das Gubener Plastinarium gerne philosophiert hätte, er wollte ihm nicht auf den Leim gehen. So schnell, wie Aaron gesprochen hat, erstrecht die Härte in seiner Stimme, verriet ihn längst. Schrimp trat einen Schritt auf Aaron zu und zwang ihn,


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