Hungerkur und Gänseblümchen. Sonja Reineke

Hungerkur und Gänseblümchen - Sonja Reineke


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nicht das ganze Gesicht piercen lassen.

      Jacqueline war ihre Zukunft total egal. „No Future“ hatte damals die Parole der Punker gelautet, die Lorenas Eltern ebenfalls in Angst und Schrecken versetzte. Jacqueline schien diesen Satz nun zu leben. Ihre Noten waren grauenhaft schlecht, einen Ausbildungsplatz bekam sie einfach nicht, obwohl Lorena die Bewerbungen inzwischen selbst tippte, da sie Jackys Rechtschreibung nicht traute. Weiter zur Schule gehen wollte sie auch nicht, und Lorena fragte sich bänglich, ob Jacqueline nicht tatsächlich diesen wahnsinnigen Plan verfolgte: Babys kriegen und Hartz-Vier kassieren. Wie ihre Kinder dann aufwachsen sollten, schien ihr egal zu sein.

      Wie bekomme ich nur Vernunft in dieses Kind?, fragte sie sich in den vielen schlaflosen Nächten. Und dann keimte in ihr die Überzeugung, dass ihre Eltern doch recht hatten und Jacqueline nur deswegen so oberflächlich und verantwortungslos war, weil sie ohne Vater aufwachsen musste.

      Natürlich war das Unsinn. Es gab in Jacquelines Klasse noch andere Kinder, die von den Müttern aufgezogen wurden und den Vater nur entfernt oder gar nicht kannten. Trotzdem machte Lorena sich schreckliche Vorwürfe.

      Gespräche brachten natürlich auch nichts. Jacqueline blockte alles ab.

      „Was tun, sprach Zeus“, murmelte Lorena nun traurig und stellte das Bügelbrett bereit, um die Tischtücher nachher zur Perfektion zu plätten.

      Maja: Der ewige Hunger

      Maja schleppte die Tüten die Straße entlang und wünschte sich, sie hätte noch ihr Auto. Oder zumindest Geld für den Bus. Oder wenigstens ihren Stolz. Denn wenn man zur Bielefelder Tafel musste, um sich Lebensmittel zu holen, war davon nicht mehr viel übrig.

      Wenigstens hätte Alex ja mitkommen und ihr Tragen helfen können. Aber der war selbst unterwegs, Pfandflaschen aus Mülleimern klauben und dann wahrscheinlich Bier kaufen, wenn das Geld reichte.

      Maja und Alex lebten oder existierten vielmehr von Hartz-Vier. Maja hatte ihre Wohnung nach Olivers Auszug in eine betreute Wohngemeinschaft nicht mehr halten können, und war wegen ihrer Depressionen auch nicht mehr in der Lage gewesen, zu funktionieren. Nach längerer Krankheit verlor sie ihren Job und fand keinen neuen mehr.

      Eine neue Wohnung hatte sie jedoch gefunden. Bei Alex. Den hatte sie - wie so viele heutzutage -, über das Internet kennengelernt, und war dann ziemlich schnell in eine eher verhängnisvolle Beziehung geschliddert.

      Cecilia hatte es wie immer auf den Punkt gebracht: „Du bist dir selbst überhaupt nichts mehr wert, Maja. Du denkst, du hättest deine Ehe ruiniert und dass dich keiner mehr haben will. Und deswegen lässt du dich jetzt auf jemanden ein, der dich will. Auch wenn er gar nicht gut für dich ist.“

      Lorena und Cecilia mochten Alex überhaupt nicht. Er war nicht unbedingt der typische Zahnlose, wie sie so gerne in Talkshows und dergleichen auftraten, aber etwas „in seinen Augen“ wie Cecilia es nannte, gefiel ihnen nicht. Und auch, dass er heftigst wegen Diebstahl, Hehlerei und Alkohol am Steuer vorbestraft war, weshalb er auch keinen Führerschein mehr besaß. Das kümmerte ihn aber herzlich wenig, und wenn ihm einer seiner Kumpel einen Wagen lieh, fuhr er trotzdem.

      „Warum auch nicht? Mich hat noch nie wer kontrolliert. Dich etwa?“ Maja schüttelte den Kopf.

      „Na siehste. Du bist viel zu vorsichtig, trau dich mal was!“ Aber Maja wäre es im Traum nicht eingefallen, ohne Führerschein Auto zu fahren. Ohne fahrbaren Untersatz stellte sich diese Frage allerdings sowieso nicht.

      Schwitzend keuchte sie jetzt durch das schmutzige Treppenhaus ihres hässlichen Mietshauses. Putzen tat hier niemand, da mochte die Hausverwaltung drohen, soviel sie wollte. Die altmodischen Türen mit den Milchglasscheiben, die die meisten innen mit Vorhängen versahen, damit sie von außen ungesehen blieben, hatten meist keine Klingelschilder mehr, und dahinter ging es hoch her. Hellhörig war das Haus nämlich auch noch.

      Maja kannte keinen der Nachbarn und wusste doch fast alles über sie. Nur die Familie ganz oben war bemerkenswert still. Alle anderen fochten ihre Streitigkeiten ebenso unbekümmert wie lautstark aus und schämten sich nicht für die peinlichen Einsichten in ihr intimstes Privatleben.

      Maja schämte sich schon eher. Ihre Beziehung zu Alex gestaltete sich schwierig. Er war ein gut aussehender Mann mit einem kleinen, feinen Bärtchen und hübschen Augen, die er meistens halb geschlossen hielt. Etwas in diesem Blick ließ Cecilia frösteln und Maja wusste inzwischen, was sich dahinter verbarg. Aber da sie ihn nun einmal liebte, blieb sie und verschloss ihre Augen vor dem, was hinter seinen vorging.

      Maja wühlte ihren Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. Natürlich hätte sie klingeln können, aber sie wollte sich Alex‘ muffigen Kommentar lieber ersparen.

      Die kleine Altbauwohnung mit der hohen Decke sah in dem einfallenden Sonnenlicht auf den ersten Blick warm und freundlich aus. Erst auf den Zweiten sah man den vielen Staub und die Spinnweben an den Decken, die vergilbten Bilder an den Wänden und wie sehr das Nikotin die Tapeten verdunkelt hatte.

      Im Wohnzimmer stand der gute Tisch mit der Glaseinlage, den Maja aus ihrer alten Wohnung mitgebracht hatte, voll mit leeren Bierflaschen und Gläsern. Die Fernbedienungen vom Fernseher, der Stereoanlage, dem DVD-Player und dem Satelliten Receiver gesellten sich dazu. Die waren noch dazu schmierig von getrocknetem Bier und Zigarettenasche. Auch die Fenster hatte Maja ewig nicht mehr geputzt. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr. Im Kühlschrank fanden sich Lebensmittel, die seit ewigen Zeiten abgelaufen waren. Auf manchen wuchs schon grüner Flaum. Aber Maja füllte einfach nur die Spenden der Tafel ein und schlug die Tür wieder zu.

      Sie zuckte erschrocken zusammen, als Alex hereinkam. Sein dunkler Blick ließ sie kurz schaudern. Er trug ein schönes Sweatshirt und tadellos saubere Jeans. Sein Haar war blond und ebenso tadellos sauber und modern geschnitten. Nein, wie ein typischer Hartz-Vier Empfänger sah er nicht aus, aber das taten ja auch nicht alle. Nur Maja kam sich meistens vor wie ein wandelndes Vorurteil.

      Alex pflegte sich. Nicht nur gewissenhaft, sondern schon fast fanatisch. Jeden Morgen wurde geduscht, das Bärtchen getrimmt, frische Kleidung angezogen, und wehe, wenn Maja die Wäsche nicht gemacht hatte und nichts da war. Dann konnte Alex zur Furie werden.

      Schlank war er, und gut gebaut. Immer saubere Fingernägel. Er roch auch immer toll. Auch jetzt umwehte ihn ein Hauch von einem teuren Rasierwasser. Da sparte er an nichts. Alles andere mochte billig sein, auch aus der Mülltonne, aber nichts, was mit seinem Luxuskörper in Berührung kam, war billig oder zerrissen oder sonst wie kaputt.

      Jetzt schaltete er den Wasserkocher an und nahm eine benutzte Tasse, die er mit löslichem Kaffee befüllte. Dabei musterte er sie von oben bis unten.

      Maja fühlte sich sofort unwohl unter diesem abschätzigen Blick. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich an Pelle erinnert, der auch ein Schönling gewesen war und sie kräftig verarscht hatte. Alex hingegen lebte sogar mit ihr zusammen, und das erfüllte Maja mit einer gewissen Befriedigung. Sie hatte einen Freund, nach dem sich die Frauen umdrehten. Nur leider passte sie so gar nicht zu ihm. Aber was sollte sie tun? Neue Klamotten kaufen war finanziell nicht drin. Sie lebte von wenigen Euro im Monat, da man in einer Beziehung ja nicht einmal den vollen Satz bekam. Maja war das ein Rätsel. Dachte sich Vater Staat etwa, dass die Liebe den Magen ausreichend füllte? Oder warum bekamen Paare weniger als Einzelne? Maja fand das noch dazu widersinnig, denn wegen dieser paar Euro mehr, die für einen Hartz-Vier-Empfänger aber eine Menge ausmachten, trennten sich viele Paare und bezogen eigene Wohnungen, die den Staat noch teurer kamen.

      Viele aus Alex’ Bekanntenkreis machten es so. Dass Alex mit ihr zusammenwohnte, fand sie nach wie vor merkwürdig. So verzichtete er auf Geld, was er nie freiwillig tat, und auch auf weibliche Gesellschaft. Denn flirten tat er oft und gerne, was Majas Herzen jedes Mal einen kräftigen Tritt versetzte.

      „Haste Joghurts gekriegt?“, fragte er jetzt mit diesem Unterton, der in Maja Alarmglocken losschrillen ließ. Schnell riss sie den Kühlschrank wieder auf und wies auf die Reihe mit den Joghurts. Er nickte kurz und holte sich einen Löffel aus der vollgekrümelten Schublade. Maja machte, dass


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