Überleben im Alltag. Rolf W. Meyer
erschien.
Am Gericht war ein zweiter Referendar tätig. Dieser war als Amtsanwalt eingesetzt. Er war ein gewandter, erfahrener, einige Jahre älterer ehemaliger Justizbeamter des gehobenen Dienstes, der nach seinem Studium nun im Vorbereitungsdienst für den Richterdienst stand. Er hatte bereits einen Bekanntenkreis am Ort und führte Albert Lenk in die Gesellschaft ein. Eine Unterkunft fand Albert Lenk in 400 m Entfernung vom Gericht im Erdgeschoss eines alten Hauses in einer Nebenstraße des Marktplatzes. Das Zimmer war kalt und dunkel und in ihm befand sich ein gusseiserner Etagenofen aus urväterlichen Zeiten. Die Vermieterin wohnte mit ihrem Sohn, einem ledigen Inspektor der Stadtverwaltung, zusammen. Albert Lenk zahlte eine geringe Miete und gehörte sozusagen mit zur Familie. Man nahm ihn mit in den Gasthof „Zum Goldenen Löwen“, wo außer dem Kollegen ein Forstreferendar und ein Volontär bei der großen Teppichfabrik Claviez, einem bekannten Unternehmen und Hauptbetrieb der Stadt Adorf, einen Mittagstisch hatten. Der Volontär, Leutnant a.D., Jurist ohne Examen und Corpsstudent, war von seinem Vater hier in Adorf auf der „letzten Station“ untergebracht worden. Der Volontär war lebenslustig und gewandt, aber leichtsinnig und versoffen. Er wohnte bei einer jungen Lehrerswitwe, wohin er den Kreis vom Mittagstisch gelegentlich einlud. Im Gasthof „Zum Goldenen Löwen“ aß man für 1,20 RM und trank dazu ein kleines Bier oder eine Tasse Kaffee, je nach Laune und Vermögensstand. Der unverheiratete Löwenwirt kochte selbst. Die Gäste waren sehr angetan von seinem Essen. Außer einem gelegentlichen Hotelgast oder durchreisenden Vertretern war die Besucherzahl im Gasthof nicht groß. Der historische Gasthof in Adorf hatte ein „Goethezimmer“, denn Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hatte auf der Durchreise nach Franzensbad oder Karlsbad zweimal hier gewohnt. Daher nahm der Gasthof für sich in Anspruch, der „Löwe“ in Goethes „Hermann und Dorothea“ zu sein. Die Salzburger Exulanten, so belegten es die Dokumente und Wandbilder, habe Goethe von dem Gasthof aus gesehen, wie sie von Oberfranken kommend, an der Apotheke vorbei über den Marktplatz zogen. Die Gelehrten streiten sich auch heute noch darüber, wo der „Löwe“ der Dichtung gelegen hat. Die Apotheke war jedenfalls auch noch da.
Eines Tages wurde der Provisor der Apotheke Mitglied der Mittagstisch-Runde. Als er den abwesenden Apotheker, der sich auf einer Reise befand, für einige Zeit vertrat und wegen des Nachtdienstes in der Apotheke wohnen musste, lud er die Mittagstisch-Runde in den Gewölbekeller der alten Apotheke ein. Die Mitgliederrunde hatte ja täglich gute Unterhaltung und kritisierte bei diesen Gelegenheiten die Kleinstadt Adorf und deren Spießer. Einen ganzen Abend lang mischte der Provisor im Gewölbekeller für seine Gäste mit den verschiedensten Essenzen wunderbare Schnäpse. Je länger der Abend dauerte umso so mehr entfalteten die Schnäpse ihre Wirkung: Die Heiterkeit innerhalb der Trinkgemeinschaft nahm immer mehr zu. Besonders der Forstreferendar entpuppte sich als unterhaltsamer Bursche, der seine Witze mit einer Reihe von Standardredensarten krönte.
Adorf war Grenzort zur Tschechoslowakei. Der Ascher Zipfel von Böhmen ragte weit über Adorf hinaus nach Norden. Der sächsische Brambacher Zipfel reichte im Süden dicht an Franzensbad. Der Schmuggel blühte. Pferde aus Ungarn und Vieh aus Mähren wurden etappenweise bis in die Grenzdörfer gebracht, von wo sie in das sächsische und bayrische Hinterland eingeschleust wurden. Kam der Zoll dahinter, gab es Strafprozesse mit vielen Angeklagten. Das kleine Gericht in Adorf hatte seine großen Tage. Es wurde denunziert, gelogen und falsch geschworen. Die tschechischen Zeugen blieben meist aus, wenn es zur Verhandlung kam. Die deutschen Zeugen wurden oft krank. Man musste schon Land, Leute und Landschaft kennen, um die Schmugglerromantik zu überwinden. Im Winter setzte man den Angeklagten in die Nähe des Ofens. So kam er ins Schwitzen. Waren die Zuschauerbänke voller Leute aus der Umgebung, waren Duft und Klima im dunklen Sitzungssaal bemerkenswert. Es war gut, wenn man die nähere Umgebung, die Täler, Grenzwiesen und die einsamen Schmugglerpfade aus Spaziergängen her kannte. Drüben in Böhmen wurde beim Eid, so sagte man, eine Kerze angezündet und neben der Bibel und einem Kruzifix auf den Richtertisch gestellt, um die Wahrheit zu erhalten. Im Amtsgericht Adorf ging es ohne eine solche Stimmungskulisse zu.
In einem Prozess um eine Pferdeherde hatte es 7 oder 8 Zeugen gegeben. Es waren Bauern aus den Grenzdörfern. Keiner von ihnen wollte auch nur einen von den ungarischen Gäulen im Stall des Angeklagten gesehen haben. Als alle widersprüchlichen Angaben vorgetragen worden waren, ließ der Richter den Hauptzeugen vortreten. Er ermahnte ihn nochmals eindringlich zur Wahrheit und nahm dessen Beteuerung entgegen: „So ist es gewesen und so will ich es beschwören.“
Das Gericht und die Zuschauer erhoben sich von ihren Stühlen. „Heben Sie die rechte Hand zum Eid“, forderte der Richter den Zeugen auf. Doch ehe die Eidesformel vorgesprochen wurde, hörte man den Richter sagen: „Und nun nehmen Sie mal die linke Hand vom Rücken und legen Sie sie vor sich auf den Tisch.“ Der Zeuge nahm die linke Hand vom Rücken, legte sie vor sich auf den Tisch, wurde blass und zögerte. Daraufhin fragte der Richter eindringlich: „Ist das alles die reine Wahrheit oder wollen Sie noch etwas sagen, ehe Sie sich unglücklich machen?“
Der Zeuge stotterte, nahm langsam die Schwurhand wieder herunter, brachte einen Wortbrocken nach dem anderen heraus, änderte seine Aussage und enthüllte schließlich die ganze Wahrheit. Dies löste bei den anderen Zeugen und den Zuhörern eine starke emotionale Reaktion aus. Der Hauptzeuge wollte während des Schwurs die linke Hand, deren Zeigefinger nach unten weist, auf dem Rücken halten. Nach dem Aberglauben des Grenzvolkes vertrat man die Ansicht, dass der Eid „abgeleitet“ werden kann. Ein Falscheid ist demnach unschädlich. Der Zollrat und seine Beamten strahlten. Nachdem alle Zeugen ihre Aussagen widerrufen hatten, war das Urteil eindeutig. Die Wirtshäuser in der Umgebung von Adorf hatten tagelang neuen Gesprächsstoff.
Albert Lenk wanderte immer wieder gern nach Böhmen hinein. In Roßbach beim „Müller-Maa“, einem alten Wirtshaus, konnte man herrliches Bier trinken. Manche Waren konnte man in Böhmen billiger bekommen. Man war unter Deutschen, jedoch in der von Österreich geprägten anderen Lebensform. Die kleinen Dörfer waren etwas ärmlicher als die Dörfer im Vogtland. Eine Wanderung führte Albert Lenk zum Kapellenberg bei Schönberg. Von einem 700 m hohen Aussichtsturm sah man weit in die sonnige böhmische Hochebene, sah Franzensbad vor sich liegen und im Rücken nach Norden befanden sich die dunklen Wälder des Vogtlandes.
Albert Lenk wanderte vom Franzensbad durch das „Mühlerl“, einem Tal mit mehreren Mühlen, in die alte Kaiserstadt Eger. Man bekam in den Wirtschaften zum Gulasch ein herrliches Elsener Bier. Der Gast wurde vom Getränkekellner, vom Speisekellner, vom „Piccolo“ und am Ende vom Zahlkellner bedient und beim Aufbruch wollte jeder von ihnen ein Trinkgeld haben. Mit einer Gesellschaft aus Adorf fuhr Albert Lenk am Faschingssonntag 1925 nach Franzensbad und erlebte zum ersten Mal einen ausgelassenen südlichen Fasching.
Das Schönste an Adorf war für Albert Lenk das nahe gelegene Bad Elster, das sächsische Staatsbad. Die Referendare des Amtsgerichts, der Forstreferendar und alle, die sonst noch empfohlen wurden, bekamen von der Kurverwaltung die grüne Dauerkarte und hatten so jederzeit freien Zugang zum Kurhaus, zu den Kurkonzerten und zu allen weiteren Veranstaltungen. Der Badedirektor, Oberregierungsrat Dr. von Burgsdorff, repräsentierte in gewandter Form. Als Sohn einer bekannten sächsischen Beamtenfamilie war er im Ersten Weltkrieg Rittmeister d. R. bei den Bornaer Gardereitern gewesen, wurde später Amtshauptmann, Kreishauptmann und schließlich Ministerialdirektor und Stellvertreter des Innenministers in Dresden. Nach 1938 war er Staatssekretär des Reichsprotektors Freiherr von Neurath in Böhmen und Mähren und erwarb, als er aus dem politischen Amt zur Truppe ging, noch das Ritterkreuz. Mehrmals hatte er Albert Lenk und seinen Bekanntenkreis an den sonnabendlichen Tanzabenden im Kurhaus von Bad Elster an seinen Tisch geholt, wo er mit prominenten Badegästen saß, und an junge Damen, die ohne Tänzer blieben, zum Tanz dirigiert. So lernte Albert Lenk viele interessante Leute und deren Lebensart kennen. Wenn allerdings der letzte Zug nach Adorf verpasst wurde, war der nächtliche Heimweg auf der Landstraße ernüchternd.
In Adorf befand sich ein „kleines Amtsgericht“. Albert Lenk wurde in allen Rechtsgebieten beschäftigt und erlebte die ganze Vielfalt eines kleinen Gerichts, an dem der Amtsrichter für alles da sein musste. Der Grundbuchführer benutzte noch den Streusand, wenn er Eintragungen ins Grundbuch machte, denn das Ablöschen der frischen Tintenschrift mit Löschpapier war aus Sicherheitsgründen durch die Geschäftsordnung verboten. Albert Lenk lernte, als er Amtsanwalt wurde, Akten