Am Ende bleibt das Leben. Fia Payton
Essen (das ich dann aber natürlich auch zu mir nehme ). Nie mehr eine unaufgeräumte Wohnung. Nie mehr fettige Haare, verschmiertes Make Up oder nicht strahlend weiße Zähne. Keine Unsicherheiten, Stammler, Verhaspler oder sonst was mehr. Am besten, ich werd ein komplett anderer Mensch, denn wenn ich das alles bin, bin ich sowieso schon soweit von mir entfernt, dass mich wahrscheinlich nicht mal mehr meine Mutter erkennt. Und wo wir gerade dabei sind, wie wärs mit neuen Eltern? Oder halt, nein lieber gar keine Eltern. Und keine Freunde. Und keine Familie.
"Tut mir leid Schatz, ich mach Schluss! Du bist mir einfach zu imperfekt, das passt jetzt nicht mehr zu mir in meine vollkommen perfekte Perfektion."
Oh Gott, für diesen Satz würde ich mich so sehr selbst verabscheuen, dass ich allein dafür vor den Zug springen müsste.
Denn das ist meine neue Lieblingsselbstmordmethode. Denn ich brauche mich ja jetzt nicht mehr um das Seelenheil des Zugfahrers sorgen. Ich bin ja jetzt keine Altenpflegerin mehr. Ich bin ja jetzt nicht mehr sozial. Ich werde, ja jetzt genau so ein Arschlochmensch wie Miranda Priestly in der Teufel trägt Prada. Ohne Privatleben, Freunde und Familie, dafür aber mit mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann und genug Macht um jeden zum Wurm zu machen, den ich grad nicht leiden kann. Oder nie leiden konnte. Das könnt ihr euch jetzt aussuchen. Aber bin das wirklich noch ich? Nicht wirklich. Nicht im Geringsten.... Aber egal!
Wer will schon freiwillig ich sein. Der möge mich jetzt bitte anrufen. Ich hab da ein Leben zu verschenken. Kommt schon, ich will nicht mal Geld dafür.... Aber selbst wenn ich noch eine Million Euro dazu bekommen würde, würde ich mein Leben nicht annehmen. Nie wieder. Wozu auch. Wenn Perfektion die andere Möglichkeit ist.
Wer würde schon Macht, Geld und Perfektion (Ja gut und einen Schuss Einsamkeit und den Verzicht auf Freizeit....pffff.... ) eintauschen gegen Ana, regelmäßige Blutbäder, ein Durchschnittsjob mit Durchschnittsgehalt und Durchschnittsfreizeitgestaltung (ist ja gut! Und eine Familie, Freunde und einen Mann an meiner Seite der mich wirklich liebt...tsss....)? Also ich jetzt nicht. Naja vielleicht ein bisschen. Oder nur einen Teil. Den in Klammern. Aber man kann sich eben nicht immer nur die Rosinchen raussuchen. Hat meine Mutter schon immer gesagt. Und das Leben ist kein Ponyhof. Hat sie auch gesagt. Sonst wär ich nämlich das Fillypferdchen mit der beschissenen Swarowskisteinchenkrone. Hab ich gesagt. Natürlich wortlos. Sonst hätte sie mich wahrscheinlich für total bekloppt gehalten. Also noch bekloppter als sie es sowieso schon immer getan hat. Glaube ich. Aber das sag ich jetzt mal einfach so.
Ich bin Pessimist! Ich darf das! Ich bin mir sowieso ziemlich sicher, dass Pessimisten definitiv näher an der Realität sind als Optimisten. Stellt euch doch mal vor, man setzt erst einen Realisten und einen Pessimisten zusammen an einen Tisch und dann einen Realisten und einen Optimisten. Realist und Optimist werden sich im besten Fall nach 15 Minuten ignorieren und mit ihren Blicken vernichten. Im schlimmsten Fall gegenseitig umbringen. Die Chance, dass der Optimist die Meinung des Realisten annimmt ist verschwindend gering, denn ihre Ansichten sind so grundverschieden, dass er es schaffen müsste in 15 Minuten seine komplette Weltanschauung umzukrempeln.
Da hat man beim Pessimisten schon bessere Chancen. Denn der muss sich eigentlich nur davon überzeugen lassen, dass die unausweichliche Zukunft, in der wir uns alle gegenseitig selbstzerstören werden, zwar auch morgen sein kann, aber genauso gut auch erst in 5, 10 oder 20 Jahren. Eigentlich sind sich nämlich beide einig, dass sie das Ende dieser Welt noch miterleben werden, vorausgesetzt dem Fall sie sterben nicht vorzeitig an irgendeiner Seuche, tödlichen Krankheit, Unfall, Mord oder sonst welchen Umwelteinflüssen.
Ja, meine Damen und Herren, das ist die Realität. Vielleicht habe ich Unrecht, aber davon werde ich erst überzeugt sein, wenn ich mit 90 Jahren auf dem Sterbebett liege und wir uns nicht im atomaren Krieg befinden (und ein Atombombenabwurf meinen Sterbeprozess etwas verkürzen könnte).
Ana hebt zweifelnd eine Braue. Das kann sie gut.
"Du wirst niemals perfekt sein, wenn du fett wie eine Tonne durch die Gegend watschelst. Und willst du wirklich 90 Jahre alt werden? Und alt, hässlich und verschrumpelt sein?"
"Also erstens: 49kg nenne ich ja jetzt mal nicht fett wie eine Tonne. Und zweitens: Ja, in meinem perfekten Leben kann ich ganz locker, entspannt und perfekt 90 Jahre alt werden."
"Schätzchen, du wirst niemals perfekt sein! NIEMALS! Und schon gar nicht mit 49kg. Das sind noch mindestens 9kg zu viel. Und du hast bei deinen ganzen Überlegungen auch nicht bedacht, dass du niemals wirst aufhören können dich bluten zu lassen. Und mit Armen und Beinen wie ein Zebra bist du ja wohl kaum perfekt, oder? Eine Miranda Priestley mit zerschnittenen Armen..... Sehr authentisch. Du. Wirst. Niemals. Perfekt. Sein!!!!! Kapier es doch endlich!"
"Und drittens: DU KANNST MICH MAL, DU EKLIGES FETTES VIEH!!!!"
"Sprach die 20kg schwerere von uns..." giftet Ana mit hasserfülltem Blick zurück.
"Ach halt doch den Mund. Ich bin wenigstens gesund!"
Ich hab noch nie in meinem ganzen Leben eine größere Lüge erzählt als diese. Ana schaut mich mit riesigen Augen an. Aller Hass ist verschwunden. Und im selben Moment fangen wir beide an lauthals zu lachen. Und zu lachen. Und zu lachen. Irgendwann hört sie auf. Und ich auch. Ana sieht mich immer noch an.
"Du hättest nichts essen dürfen."
"Ich weiß. Es tut mir leid!"
"Die nächsten drei Tage darfst du nicht essen. Dann wird es dir wieder besser gehen." sagt sie mit liebevoller Stimme.
"Ich weiß. Ich werde nichts essen."
"Dann werden wir beide wieder stolz auf dich sein. Und du musst spazieren gehen. Mindestens eine Stunde am Tag. Jeden Tag. Das tut dir gut."
"Mach ich. Auf jeden Fall. Ana? Hast du mich noch gern?"
"Solange du auf mich hörst und nicht isst und Sport machst."
"Dann hast du mich gern?"
"Ja. Klar!"
"Gut. Dann können wir ja jetzt wieder Freunde sein, oder?"
"Na klar. Wie sagen die Teenies von heute? BFF. Best friends forever. Ich lass dich nie mehr allein, Sophie. Das müsstest du doch mittlerweile verstanden haben."
"Hab ich. Das ist gut. Danke."
Ja! Danke Ana, dass du mein Leben versaust. Danke Ana, dass ich wegen dir niemals perfekt sein werde.
"Gerne. Ich hab dich lieb."
Und willkommen altes Leben. Willkommen Unperfektion. Und tschüss Träume. Aber vielleicht. Vielleicht kann ich ja Ana, perfekt und Miranda Priestley sein (ja ich weiß, die Frau hats mir angetan). Vielleicht kann ich auch mit Ana an meiner Seite meine Träume verwirklichen. Vielleicht ist der Satz: "Ich hasse diese Chefin. Die mit ihrer blöden Herrsch- und Magersucht." gar nicht so abwegig. Vielleicht ändere ich meinen Namen und heiße demnächst Ana Priestley. Dann wäre ich noch nah genug bei Ana um nicht einsam zu sein und trotzdem weit genug von mir entfernt um ich zu sein.
Ich könnte natürlich auch gesund werden und eine normale Karriere und ein normales Umfeld mit Freizeit und Familie haben und ein normales Leben führen. Aber das normale hat mir noch nie gelegen. Gut, mag sein, dass ich dann glücklich wäre, aber den Traum habe ich eh längst begraben. Glücklich zu werden. Und normal. Igitt. Normal. Ekelhaft.
Kennt irgendwer von euch den Moment, in dem man über das gesagte/ geschriebene nachdenkt und sich fragt wie krank/ bescheuert/ psychopatisch man eigentlich sein muss um das auch nur zu denken? Geschweige denn es laut auszusprechen. Das habe ich öfters. Jetzt gerade zum Beispiel. Aber dafür ist es ja mein Buch, nicht wahr. Und dafür ist es die Realität und kein Fantasyroman.
Denn sonst würde ich schreiben, dass wir in 30 Jahren alle wie Mönche in Frieden und absoluter Harmonie zusammen leben werden und alle sozialen Missstände behoben worden sind. Die Umwelt wächst und gedeiht und keine Tiere mehr um ihr Überleben kämpfen müssen oder vom Aussterben bedroht sind. Wenn ich das schreiben würde, wäre ich Optimist und dieses Buch ein Fantasyroman. Aber ich zieh mir gerne die Realität rein. Ungeschnitten und unzensiert.
Aber ich