Noch 24 Geschichten bis Weihnachten. Frank Böskind Ronald Nielitz

Noch 24 Geschichten bis Weihnachten - Frank Böskind Ronald Nielitz


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      Imprint

      Noch 24 Geschichten bis Weihnachten

      Zwölfmal zwei Kurzfilme für’s Kopfkino

      Ronald Nielitz, Frank Böskind

      Published by: epubli GmbH, Berlin,

      www.epubli.de

      Copyright: © 2012 Ronald Nielitz, Frank Böskind

      ISBN 978-3-8442-3417-6

      Inhaltsverzeichnis

      Geschichte und Seite

      Eins 3

      Zwei 6

      Drei 8

      Vier 13

      Fünf 16

      Sechs 18

      Sieben 20

      Acht 22

      Neun 24

      Zehn 27

      Elf 29

      Zwölf 31

      Dreizehn 34

      Vierzehn 36

      Fünfzehn 39

      Sechzehn 41

      Siebzehn 44

      Achtzehn 47

      Neunzehn 49

      Zwanzig 53

      Einundzwanzig 56

      Zweiundzwanzig 59

      Dreiundzwanzig 61

      Vierundzwanzig 63

      Eins

      Verstohlen grinste der alte Mann unter seinem ins Gesicht gezogenen Strohhut. Da war er wieder. Er erinnerte ihn an früher, an die Zeit als er selbst noch jung, an die Zeit, als sein eigener Sohn noch klein gewesen war. Kraemer spürte herbsüße Sehnsucht in sich aufsteigen. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der eigenen Kindheit, nach dem Herumstreunen durch das Unterholz im lichtdurchfluteten sommerwarmen Wald, dem unter den Fußballschuhen wegrutschenden Schotter des Sportplatzes, von dem bei jedem Schritt rote Staubwölkchen aufstoben, und nach Jonas Kindheit. In Gedanken ließ er unter dem Hut für Jona Drachen steigen, brachte ihm wieder das Fahrradfahren bei und schwamm mit ihm im Weiher hinter dem Dorf. Alles in Sekundenschnelle. Er spürte wieder die Tränen von Sara und sich bei Jonas ersten unbeholfenen Schritten. Josh, dachte er, Du wirst ja sentimental. Du hast doch die Fotos, hast doch Deine Erinnerung. Was willst Du mehr? – Was ist der Geschmack eines Steaks verglichen mit dem Studieren der Speisekarte? Was die Jugend gegen ein Foto von ihr?, widersprach eine zweite Stimme in seinem Kopf. Dass alternder Weinbrand immer edler wird, ist kein Trost. Nichts kannst Du festhalten, nichts bewahren, nichts konservieren. Alles, aber auch alles verrottet und zerfällt zu Staub. Es ist nur eine Frage der Zeit und die Zeit arbeitet wie ein Schnellkomposter. Schonungslos. Warte nur balde, alter Mann...

      Der Junge! – Fast hätte er ihn vergessen. Er schob den Hut in den Nacken und schielte zu dem Spiegel an der Decke hinauf. Ein kleiner Junge in einem Antiquitätenladen war schon eine Seltenheit. Gerade stand er am Ende des Querganges. Kraemer ließ seinen einzigen Kunden nicht mehr aus den Augen. So groß wie er mochte inzwischen auch Joel sein.

      Kraemer verstand es nicht. Wie und warum hatte die Schwiegertochter Jona davon überzeugen können, dass es besser sei, Joel seine Großeltern nicht kennen lernen zu lassen? Was hatten Sie ihr getan? Sie hatten ein Recht, ihren Enkel zu sehen. Aber sie schiss auf die Gefühle von Sara und ihm. Dabei litt Sara mehr als er. Er hatte den Laden und konnte sich ablenken. Sie hatte nichts. Nur die Vorfreude auf Joels Geburtstag und die Feiertage, an denen sie ein Päckchen für ihn schnürte. Ein Päckchen, dass er vermutlich niemals zu Gesicht bekam, weil Carmen es zu verhindern wusste. Ein Kind ohne Großeltern. Bei den Verhandlungen mit Carmen steckten sie in einer Sackgasse und sie waren einfach zu alt, um die Mauer an deren Ende zu durchbrechen oder hinüber zu springen.

      Der Junge kam zurück! Kraemer griff nach dem erstbesten Buch und tat, als habe er die ganze Zeit gelesen. Heute schlug sein Besucher die Klingel auf dem Tresen. Kraemer blickte auf und sah in das Sommersprossen-Gesicht, dessen Stirn sich immer mehr fragend in Falten zog. Nach Augenblicken brach der Junge das Schweigen.

      „Was machen Sie da?“

      „Ich lese“, antwortete Kraemer knapp und fügte entschuldigend „Ich liebe es einfach“ hinzu.

      „Niemand liebt das Postleitzahlenbuch.“

      Kraemer wusste, dass ihn sein überraschtes Gesicht längst verraten hatte, stotterte aber trotzdem drauflos.

      „Ja, ... weißt Du, ich muss... ich muss mein Gedächtnis trainieren.“ Langsam stand er aus seinem Schaukelstuhl auf. „Welche Postleitzahl haben zum Beispiel die Leute in der dritten Straße?“

      Der Junge zuckte die Achseln. „Mir doch egal.“

      „Nun ja, so egal kann es nicht sein, sonst gäbe es wohl keine Postleitzahlen.“

      „Wollen Sie nur labern oder auch was verkaufen?“

      Kraemer schluckte.

      „Was wollen Sie dafür?“ Der Junge schob eine bunt gepunktete gelbe Pappschachtel über den Verkaufstisch. Kraemer wusste genau, dass sie mit rotem Samt ausgeschlagen war und er wusste auch, was in ihr schlummerte.

      „Heute kein Buch?“ Über seine Lesebrille hinweg sah er den Jungen prüfend an. Der wurde rot, aber Kraemer tat, als merke er es gar nicht.

      „Das hier...“, fuhr er fort und tippte auf die Schachtel. „Das hier ist etwas ganz Besonderes.“

      Spöttisch sah der Junge ihn an.

      „Es ist eine Art Zauber, würde ich sagen.“

      „Ja und?“

      „Was würdest Du geben?“

      „Fünf!“

      „Fünf? Zauberei kostet eigentlich viel mehr. Sieh doch nur!“ Kraemer öffnete die Schachtel und nahm behutsam ein Kaleidoskop heraus. Sacht schüttelte er das Spielzeug und reichte es über den Tresen. Der Junge trat einen Schritt zurück und wich dem hingestreckten Rohr aus. Kraemer spürte, dass er aufpassen musste. Er durfte nicht zu viel riskieren, denn er träumte. Vom ersten Tag an, an dem der Junge seinen Laden betreten hatte, träumte er davon, dieser, wie sich jetzt herausstellte, Frechdachs könne seinen Enkel wenigstens vertreten. Ersetzen konnte er ihn nicht, aber vertreten. Vertreten, das ging.

      „Verführt es Dich nicht zum Träumen?“

      „Ich weiß, wie es funktioniert“, gab der Junge zurück. „Ich finde es blöd, aber ich nehme es trotzdem. Es ist nicht für mich.“

      „Ist es Dir zu kindisch? Kinderkram? Die Zeit, in der wir keine Kinder sein wollen, ist nur kurz. Bald hast Du sie hinter Dir.“ Der Junge schien, nicht zugehört zu haben.

      „Und eine Tüte. Es passt nicht in meine Tasche.“

      „Ach so, jetzt verstehe ich“, lachte Kraemer.

      „Sind Sie pädophil, oder was?“

      Jetzt war es heraus. Eine Scheißzeit war das, in der jeder immerzu verdächtig war, pervers zu sein, Kinder zu schänden oder in seinem Keller Frauen zu zerstückeln. Kraemer ballte die Fäuste, ging zu der alten Registrierkasse und hämmerte auf die Tasten. „Also“, begann er und sah angestrengt zur Decke. „Das macht dann fünfundzwanzig. Brauchst Du einen Beleg?“

      „Was?“

      „Eine Rechnung.“

      „Ich dachte fünf.“

      „Ja, ja, fünf für das Kaleidoskop“, begann Kraemer zu erklären. „Fünf für ‚20.000 Meilen unter dem Meer’, fünf für ‚Der Graf von Monte Christo’, fünf für...“

      „Den Verne habe ich zurückgebracht“, unterbrach ihn der Junge.

      „Oh“, stieß Kraemer mit gespielter Bewunderung aus. „Du stellst wohl vorsichtiger zurück, als Du stiehlst, was? Immerhin.“


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