Noch 24 Geschichten bis Weihnachten. Frank Böskind Ronald Nielitz
meinem Chef einfach nicht genügt.“
Mit einem Mal wirkte der Junge klein und verloren hinter dem Tresen so weit unter Kraemers Augen.
„Wie haben Sie es denn gemerkt?“ Kleinlaut griff der Ertappte nach seinem Brustbeutel.
„Ich kenne jedes Staubkörnchen hier mit Namen, weil ich jedes Teil liebe und...“
Kraemer stockte. Als der Junge zu ihm aufsah, erschrak er. Er sah sicher schrecklich aus. Die Augen des Jungen weiteten sich vor Besorgnis. Kraemer musste sich setzen.
„Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?“
Wie betäubt starrte er auf das lederne Halsband des Jungen, das er zusammen mit dem Geldbeutel unter dem T-Shirt hervorgezogen hatte, und an dem ein Haifischzahn baumelte. Aus dem Meer der Vergessenheit schoss der in die Höhe wie ein Riff, drang an die Oberfläche, teilte die dunklen seine Erinnerung überdeckenden Fluten und legte versunkengeglaubte Jahrzehnte wieder frei. Man vergaß nichts. Kraemer fühlte sich schwach. Kraftlos zeigte er auf die Brust des Jungen.
„Hast Du den auch geliehen?“
„Nein, den hab ich von meinem Vater. Aber, Sir – Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie einen Arzt?“ Der Junge stand unentschlossen im Laden und blickte zwischen der Tür, Kraemer und dem Telefon hin und her. Kraemer wandte sich um und öffnete eine Schublade, überlegte und schob sie dann wieder zu.
„Nein, nein. Es ist nichts. Es geht schon wieder“, beschwichtigte er.
„Kennen Sie meinen Vater?“ Kraemer glaubte, ein wenig Angst in der Stimme des Jungen mitschwingen zu hören. Tief atmete er durch und stand wieder auf. Dann nahm er die Schachtel, schlug sie mit geübten Griffen in einen Bogen Geschenkpapier ein und legte das Päckchen behutsam in eine Tüte.
„Ich bin mir nicht sicher. Früher. Vielleicht. Das wäre lange her.“
Der Junge verstand offenbar nichts. Stumm stand er da mit dem Geld in der Hand. Kraemer führte ihn zur Tür und übergab ihm die Plastiktüte.
„Aber Ihr Geld!“
Kraemer winkte ab. „Beim nächsten Mal“, sagte er und legte seine ganze Hoffnung in diesen Vorschlag.
„Das mit den Büchern bleibt unter uns“, raunte er noch verschwörerisch, dann schloss er die Tür und drehte das Schild im Fenster herum. ‚Geschlossen’. Das alles hatte ihn mitgenommen. Langsam ging er zum Tresen zurück und zog die Schublade wieder auf. Draußen drückte sich der Junge gegen die Scheibe und spähte herein. Schließlich lief er davon.
Entgegen einem ersten Impuls hatte ihm Kraemer das alte Foto doch nicht gezeigt. Vielleicht wäre er nie wiedergekommen. Hätte nie wiederkommen dürfen. Was, wenn er trotzdem nicht wiederkam? Wahrscheinlich hatte er alles falsch gemacht. Joshua Kraemer war ratlos. Er wusste nur eins.
Es war während eines Urlaubs am Meer gewesen. Jona hatte Ihnen keine Ruhe gelassen, bis sie ihm den Zahn einer dieser Bestien gekauft hatten. Daheim hatten sie ihn dann gemeinsam durchbohrt. Zitternd strich er über das Haar des Jungen mit dem Haifischzahnhalsband. Eine Träne suchte sich ihren Weg durch das zerfurchte Gesicht des alten Mannes und ließ sich auf das vergilbende Foto fallen. Er musste schnell nach Hause zu Sara. Heute war ein besonderer Tag. Der Sohn seines Sohnes hatte ihn besucht.
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