Verknotungen Erzählungen. Wilhelm Thöring

Verknotungen  Erzählungen - Wilhelm Thöring


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So viel Fantasie habe ich nicht!

      Das ist nur in diesem verrückten Amerika möglich. Na, und außer Sekt oder Wein sitzt auch noch dein Damir mit dir im Badewasser.

      Und dass du das auch noch erzählst! Ihr jungen Leute seid so ungeniert!

      Milena, Milena, wie weit bist du vom Leben in diesem Dorf abgerückt! Bist in nur acht Jahren durch und durch Amerikanerin geworden!

      Ich sehe kaum noch eine Seite an dir, die ich kannte und in der ich einmal lesen konnte.

      Du stehst vor mir, mein Kind, und ich sehe eine Fremde. Und doch sterbe ich bei dem Gedanken, dass du weggehen wirst. Du Fremde, die meine Tochter ist ...

      In dir leuchtet nichts mehr auf von dem, was mich erkennen lässt, dass du mein Kind bist. An diesem Tisch hast du einmal hartes Brot gegessen, hast aus dem Brunnen Wasser geschöpft und getrunken und konntest unter dem schweren Bett in der stickigen Kammer wie eine Katze schlafen. Milena, wo ist das geblieben? Ich habe gesehen, wie du in dem einfachen Essen herumgestochert und wie entsetzt du einen Wasserfloh aus dem Glas Brunnenwasser gefischt hast, das ich dir zu trinken gab. Was in Amerika undenkbar ist – hier gibt es nichts anderes als das, woran du dich noch erinnern müsstest. Aber das hat dein verändertes Leben aus dir herausgespült!

      Und doch, meine fremd gewordene Tochter, möchte ich dich festhalten! Seit du weggegangen bist, liegt ein Stein auf meinem Herzen. Es gibt Tage, da erdrückt er mich, Milena ... da ersticke ich an meinen Tränen ...

      Da stehst du am Feld. Du frierst mit deinem nassen Haar und dem dünnen Pullover. Vor Kälte bist du ganz krumm geworden und schlotterst wie ein junger Hund. Warum stellst du dich nicht an die Wand des Schuppens? Da bläst kein so ruppiger Wind.

      Du weißt, dass ich dich beobachte, Milena. Sicherlich weißt du auch, was in mir vorgeht, was ich denke.

      In den ersten Briefen aus Amerika hast du mir geschrieben, deine Wurzeln lägen in unserem Dorf, die lassen sich nicht ausgraben. Nein, Milena, diese Wurzeln sind vertrocknet! Ja, vertrocknet! Die Zeit heilt, sagt man; aber ich weiß: die Zeit lässt auch sterben.

      Die Mutter erhebt sich und geht ins Haus, als sie glaubt, dass Milena sich zu ihr auf die Stufe setzen wird. Unschlüssig steht der Hund zwischen beiden, aber als die Mutter geht, folgt er ihr.

      Als die Mutter ins Haus gegangen ist, läuft Milena in den rückwärtigen Garten. Hier setzt sie sich auf den Hackklotz vor dem aufgeschichteten Feuerholz und beginnt murmelnd zu klagen:

      „Ach, Mutter! Warum hast du darauf bestanden, dass ich so viele Wochen bei dir bleibe? Mit jedem neuen Tag lässt du mich spüren, dass ich störe, dir eine Last geworden bin. Es sind nur noch wenige Stunden, bis Mirko mich zum Airport fährt.

      Mutter, Mutter ... Was sind die zerschossenen Häuser, die zerfetzten Bäume, was sind die misstrauischen und abweisenden Menschen hier gegen die Wunden, die ich in meinem Herzen aus diesem Hause forttrage?“

      Milena schlägt den Kopf gegen den Holzstapel, als könnte sie dadurch Antwort bekommen. Sie spürt nicht die Kälte, die sich wie Nebel auf sie gelegt hat, nicht die kleine blutende Schramme auf der Stirn – Milena spürt nur Schmerzen im Innern.

      Unbemerkt ist die Mutter herausgekommen. Sie hat sich in ein großes Schwarzes Tuch gehüllt.

      „Ich muss noch einmal weg“, ruft sie. „Zum Mirko.“

      Gebeugt, auf einen Stock gestützt geht die Mutter ins Dorf. Sie geht ohne den Hund.

      Verwundert stellt Milena fest, dass die Mutter eine alte Frau geworden ist. Gebückt und mit einem Stock hat sie sie noch nie gesehen.

      An diesem Abend, der Milenas letzter ist, wird die Mutter lange fortbleiben.

      Als sie nach Hause kommt, ist sie schweigsam und zeigt ein verschlossenes Gesicht.

      Der Hund, der neben dem Herd auf die Mutter gewartet hat, streckt sich schwanzwedelnd. Raunend befiehlt sie ihm, auf seinem Platz zu bleiben. Das ist alles, was sie spricht. Bevor sie in ihre Schlafkammer geht, deckt sie den Tisch für das Frühstück.

      Das letzte Frühstück, das Milena an diesem Tisch einnehmen wird, wird sie allein essen, denn ein zweites Gedeck ist nicht aufgetragen. Wahrscheinlich wird die Mutter schweigend, mit verschränkten Armen, sich gegen den Herd lehnend, ihr beim Essen zusehen, wie sie es gestern und die Tage davor schon gemacht hat.

      „Ich gehe ins Bett“, sagt Milena. „Wir müssen morgen sehr früh aufstehen. Gute Nacht, Mutter.“

      „Bis morgen“, kommt es leise.

      Es ist noch dunkel, als Milena aufsteht. Die Stube bekommt ihr Licht von der offen stehenden Ofentür. Hinter dem Tisch entdeckt sie die Mutter, die ihren Mantel über der Stuhllehne hängen hat. Vor ihr steht eine leere Schüssel, darin steckt der Löffel. Die Mutter hat schon gefrühstückt.

      Auf der Straße ist es stockdunkel, wie sie es in den Staaten nirgendwo erlebt hat. Es ist, als gäbe es in diesem Land nicht nur keine Laternen, sondern auch keinen Mond, keine Sterne. Sind die in verbissener Wut auch vom Himmel geschossen worden?

      Eilig, stumm trägt die Mutter Milenas Gepäck in den Hof. Immer wieder späht sie in die Straße, wo Mirko bleibt. Beide Hände in die Jackenärmel geschoben, ist Milena herausgekommen. Jetzt kann die Mutter die Haustür abschließen; den Schlüssel versteckt sie an seinem Platz beim Feuerholz. Hinter der Tür winselt Slobo. Die Mutter schimpft mit ihm, und weil er nicht aufhört, wirft sie einen Holzkloben gegen die Tür.

      Knatternd kommt Mirko ans Haus gefahren. Mirko ist fröhlich. Als er Milena sieht, lacht er laut und pfeift durch die Zähne und macht sich daran, das Gepäck zu verstauen.

      „Alles fertig! Na, fahren wir“, kommandiert er und hält den Frauen die Wagentür auf.

      Mirko ist ein gedrungener, kraftstrotzender Mensch, der den Kopf etwas nach vorne neigt, dass Milena seinen Stiernacken sehen kann, der aus dem Hemd herauswächst und den Kragen zu sprengen droht. Mehrmals versucht Mirko einen Blick nach hinten zu werfen, woran ihn jedoch sein Nacken hindert – er muss den Oberkörper drehen.

      Wie Fremde in einem Bus sitzen Mutter und Tochter an die Scheibe gedrängt und starren ins nächtliche Land. Beide haben sich in Decken gehüllt. Sie berühren sich nur, wenn Mirko ohne die Geschwindigkeit zu drosseln in eine scharfe Kurve fährt. Es ist kalt im Wagen. Mirko sagt, ob Sommer oder Winter – immer fahre er ohne Heizung, denn die lässt sich nicht mehr reparieren.

      „Amerikanische Verhältnisse wird es bei uns nie geben“, knurrt die Mutter. „Da lässt du deine alte Karre am Straßenrand stehen, gehst in den nächstbesten Laden und kaufst dir eine neue!“

      „Ja, geht das so einfach, Milena“, fragt Mirko. Aber Milena gibt ihm keine Antwort.

      Mirko sieht über die Schulter nach den Frauen – die eine starrt links aus dem Fenster, die andere rechts.

      „Abschied ist wie dicke Luft.“

      Und weil keine darauf antwortet, pfeift er auf seine breiten dicken Hände auf dem Lenkrad.

      Wie sehr Milena auch ins Dunkle späht – sie kann kein erleuchtetes Fenster entdecken. Sie hat das Gefühl, von Mirko durch menschenleeres Ödland gefahren zu werden.

      Das Gesicht der Mutter ist so dicht an der Scheibe, dass sich Dunstflecken bilden. Sie atmet schwer und verhakt die Hände im Schoß so fest ineinander, dass es wehtun muss. Ihre knochigen, rauen und abgearbeiteten Hände, die einmal streicheln konnten, die Essen über den Tisch geschoben haben – die jetzt verraten, was in ihr vorgeht.

      „Ich habe gesagt: die Straßen sind frei, wir brauchen nicht so zeitig loszufahren“, spricht Mirko nach vorne. Angestrengt blickt er auf den Lichtfleck, den die Scheinwerfer vor ihm herschieben.

      Plötzlich muss er so scharf bremsen, dass die beiden Frauen ruckartig nach vorne fallen. Im Scheinwerferlicht steht mitten auf der Straße ein Eselkarren, voll beladen mit Gerümpel. Daneben schaufelt ein alter Mann Pferdemist in einen Eimer.

      „Du


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