Klein, aber (nicht immer) fein - Teil 2. Manfred Stuhrmann-Spangenberg
Hier am westlichen Ende des Mittelmeeres heißt das: Wer nach Gibraltar fährt, muss auch nach Ceuta fahren. Glaubt man der griechischen Mythologie, und es gibt viel zu viel Evidenz, ihr nicht zu glauben, dann waren Europa und Afrika solange miteinander verbunden, bis Herkules (oder auch Herakles) im Kampf mit Antäus die beiden Säulen Calpe und Abyla voneinander trennte, die heute als der Felsen von Gibraltar und der Berg Hacho (in Ceuta) bekannt sind. Zumindest in Ceuta sieht man das jedenfalls so. In Marokko ist man eher der Meinung, dass mit dem Berg Abyla der heutige Berg Dschebel Musa gemeint ist, der in Marokko, wenige Kilometer von Ceuta entfernt, deutlich höher aufragt als der Monte Hacho. Aber letzterer liegt eventuell eine Klitzekleinigkeit näher an Gibraltar, so dass ich eher zur spanischen Variante tendiere.
Die Straße von Gibraltar trennt auf jeden Fall zwei merkwürdige politische Gebilde voneinander. Das britische Überseegebiet Gibraltar an Spaniens Südküste und die spanische Exklave Ceuta auf der anderen Seite der Meerenge in Marokko. 27,4 km Luftlinie trennen Gibraltar und Ceuta. Und von Spaniens Hafenstadt Algericas ist das 29,5 km entfernte Ceuta in knapp einer Stunde mit der Fähre zu erreichen. Nach der Ankunft in Ceuta checke ich in einer „Casa de Huéspedes“ (also in einem Gästehaus) ein und mache mich auf, das derzeit wahrscheinlich bekannteste Bauwerk Ceutas zu besichtigen – den etliche Meter hohen Grenzzaun zu Marokko. Auch wenn ich vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen habe, wie Flüchtlinge aus Afrika diesen Zaun überkletterten, kann ich mir beim Anblick des doppelten, mit Stacheldraht gekrönten Zaunes nicht vorstellen, wie man hier rüber klettern kann. Zumal zu erkennen ist, dass auch auf marokkanischer Seite ein Zaun den Weg nach Spanien versperrt.
In brütender Hitze laufe ich vom Grenzübergang aus ein Stück die Straße entlang, vorbei an einem Gewerbegebiet bis auf eine Anhöhe, von wo aus man die Grenzanlagen gut beobachten kann. Drüben in Marokko ist ein Unterstand zu erkennen, von dem aus marokkanische Grenzer das Gebiet kontrollieren. Auf spanischer Seite sehe ich ebenfalls mehrere Polizeifahrzeuge, die am Zaun entlang geparkt sind. Ich bin zu weit entfernt, um zu erkennen, ob hier die europäische Grenzschutzgruppe „Frontex“ die Grenze sichert oder ob es Spanier sind. Unheimlich und auch unmenschlich, diese Grenze. Vielleicht habe ich ja doch ein westberliner Mauertrauma, denn die Grenze verursacht bei mir ein großes Unbehagen. Mir ist aber auch klar, dass Ceuta ohne diese Grenzsicherung innerhalb kürzester Zeit im Chaos versinken würde. Hier wird mir wieder einmal besonders bewusst, dass ich ein Bewohner der „Festung Europa“ bin. Festungsanlagen gab es wohl schon immer, mehr oder weniger ausgeprägt.
Hier in Ceuta wurden die ersten Festungen während der siebenhundertjährigen Zeit der arabischen Herrschaft errichtet. Dann kamen erst Portugiesen und schließlich Spanier hierher und bauten Ceuta als militärischen Stützpunkt immer weiter aus. Die beindruckenden Festungsanlagen können besichtigt werden, was ich mir natürlich nicht nehmen lasse. Damals mussten die dicken Mauern Kanonenkugeln standhalten. Heute kann das spanische Militär relativ sicher davon ausgehen, dass von Marokko aus keine Kanonenkugeln auf Ceuta abgefeuert werden, auch wenn die marokkanische Regierung die auf afrikanischem Boden befindlichen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla (eine weiter ostwärts gelegene Ortschaft) gern Marokko einverleiben würde. „Das wäre eine Katastrophe. Ich fahre sehr oft zum Einkaufen rüber ins wenige Kilometer von meinem Wohnort entfernt liegende Melilla. Wenn Marokko diese beiden Orte von Spanien erhielte, würden sie innerhalb kurzer Zeit genauso schmutzig und chaotisch werden, wie alle unsere Städte sind. Ceuta und Melilla müssen spanisch bleiben. Und das sehe nicht nur ich so, sondern alle meine Nachbarn und Freunde auch.“ Diese Aussage werde ich ein paar Tage nach meinem Besuch Ceutas von einem Marokkaner erhalten, der im Hostel in Barcelona im gleichen Mehrbettzimmer übernachtet wie ich. Ich habe keine Ahnung, wie repräsentativ diese Aussage ist.
Die Bewohner Ceutas sind Spanier. An so manchem Balkon wird das durch spanische Fahnen auch klar gezeigt. Hier gibt es keinerlei Tendenzen, sich Marokko anzuschließen, das ist wohl sicher. Wer ein Faible für alte spanische Lebensart hat, der sollte unbedingt zum Mittagessen im „Casino Militar 1853“ einkehren. Ein wunderschönes Gebäude mit Speisesälen, wie man sie entweder aus Filmen oder aus eigenem Erleben in den Siebzigern kennt. Fast könnte man meinen, dass die Speisenden an den Nachbartischen hier noch kürzlich mit Franco getafelt hätten (bei den allermeisten Herrschaften käme das auch altersmäßig locker hin). Erschrecken Sie nicht, wenn Sie nach dem Essen das Gebäude verlassen und am Dach des Hauses gegenüber Drachen entdecken. Diese „Dragones“ sind Attrappen, die Originale sind verschwunden.
Meinen Tag in Ceuta lasse ich gemütlich in einem kleinen Restaurant an der Küste ausklingen. Ich habe eine grandiose Aussicht auf die afrikanische Küstenlinie und genieße Tapas und Cerveza. Mari José, die hier arbeitet, ist es gewohnt, mit ihren Gästen zu kommunizieren. Ich erzähle ihr, dass ich vor vierzig Jahren schon einmal in Ceuta war. In meiner Erinnerung kam mir Ceuta viel kleiner und sehr staubig vor, eine winzige Garnisonsstadt. „Ja, es hat sich hier viel verändert. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aus einer kleinen Garnisonsstadt ist ein beliebtes Ausflugs- und Urlaubsziel geworden. Heute sind die Gebäude und Straßen der Altstadt alle renoviert. Es ist jetzt sehr schön bei uns und wir haben eine sehr hohe Lebensqualität. Das Benzin ist viel billiger als auf dem spanischen Festland. Die Mieten sind auch erschwinglich. Wir wohnen hier in einer Dreizimmerwohnung und zahlen 300 Euro Miete.“
Und dann erfahre ich noch etwas, was mir als Westberliner sehr vertraut vorkommt. „Die Bediensteten des Staatsdienstes bekommen eine ‚Ceuta-Zulage‘ und die ist sehr anständig. Damit werden Spanier angelockt, die dann oft sehr gerne hier wohnen bleiben, wenn sie gemerkt haben, dass wir hier in europäischen Verhältnissen leben und nicht etwa in afrikanischen.“ Für meine jüngere Leserschaft sei hier erwähnt, dass es in Westberlin für alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten die berühmte „Berlinzulage“ gab, die nicht nur zu meinem Bedauern nach dem Mauerfall abgeschafft wurde. Marie José redet über Ceuta, als ob sie vom Tourismusbüro dafür bezahlt würde. „Außerdem haben wir ganzjährig ein wunderbares Klima. An einigen Tagen im Sommer wird es ein wenig heiß, aber ansonsten kann man es hier herrlich aushalten.“ Inzwischen ist es dunkel, und das Fußballspiel im Fernsehen ist abgepfiffen worden (Barca 2, Arsenal 1). Ich bitte um die Rechnung und erlebe eine nette Überraschung. „Das letzte Bier geht aufs Haus. Kommen Sie bald wieder, ich würde mich freuen.“ Gern. Allerdings sollte ich dann nicht wieder 40 Jahre warten. Das könnte eventuell zu spät werden.
Am nächsten Tag fahre ich mit der Fähre von Afrika zurück nach Europa (rein geografisch, versteht sich). Ich wundere mich, dass diese so viel leerer ist als auf der Überfahrt nach Ceuta. Die Erklärung hierfür erhalte ich ein paar Tage später aus der spanischen Zeitung „El Pais“. Viele Marokkaner, die in Spanien leben, fahren in diesen Tagen nach Hause in den Sommerurlaub. Und noch hält die Ausreisewelle an. Die „Operación Retorno“, also die Rückreisewelle, steht dann für Ende August an. Und während es die Marokkaner in den Süden zieht, reise ich nach Norden. Mein nächstes Reiseziel ist allerdings nicht ganz so schnell zu erreichen. Per Bahn durchquere ich Spanien und Frankreich und begebe mich wieder auf eine Fähre, die genau an meinem Reisetag wegen heftiger Winde erst einige Stunden später ablegt. Die Überfahrt von Saint-Malo nach Jersey kann man dann auch durchaus als ein bewegendes Ereignis bezeichnen.
der Grenzzaun zwischen Ceuta und Marokko
Herkules bei der Arbeit
Jersey
Bleiben oder Gehen?
Fragen Sie doch mal einen Engländer, ob er den „Sleeve-Channel“ kennt. Jede Wette, dass der Begriff „Ärmelkanal“ nicht zu seinem Sprachschatz zählt. Den „English Channel“ kennt er garantiert. Diese Bezeichnung hört man nun wiederum in Frankreich nicht gern, denn von dort stammt wohl der auch heute noch gebräuchliche Name „La Manche“, also „Der