Worte wie wir. Annah Fehlauer
Abends hatten sie beschlossen, dass sie, wenn sie dreißig wären und noch nicht vergeben, einander heiraten würden. Wahrscheinlich hatten sie damals beide bereits geahnt oder unbewusst gewusst, dass es nicht leicht werden würde, andere ernsthafte Partnerschaften einzugehen.
Sie hatte noch mehrere Jahre gebraucht, um sich endgültig einzugestehen, dass sie sich regelmäßig in Mädchen, später dann in junge Frauen, aber so gut wie nie in Männer verliebte.
Und Martin, nun ja, Martin hatte noch zu Schulzeiten begonnen, eine Art Doppelleben zu führen. Sie schmunzelte unwillkürlich, als die Erinnerung sie überkam, wie fasziniert er zu dieser Zeit von Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde gewesen war, das sie in ihrem Englischkurs gelesen hatten. Wenig später war er wochenlang mit Oscar Wildes The picture of Dorian Grey unter dem Arm herumgelaufen, so dass Catharina angefangen hatte, ihn aufzuziehen, indem sie ihn wahlweise mit Dorian, Mr. Grey oder Dr. Jekyll ansprach.
Martin war schon damals sehr attraktiv, offenbar für beide Geschlechter gleichermaßen. Catharina konnte nur grob schätzen, wie viele ihrer Mitschülerinnen für ihn schwärmten. Da er zudem sehr sportlich war, war er auch bei den Jungs sehr beliebt, fühlte sich jedoch in der testosterongeschwängerten Luft der Männerumkleidekabine äußerst unwohl.
Dass er sich zu Männern hingezogen fühlte, war, zumindest für Catharina, ein offenes Geheimnis, so dass sie wenig erstaunt war, als er ihr Anfang Zwanzig endlich offiziell gestand, schwul zu sein. Catharina hatte ihn damals fest in die Arme geschlossen und ihm ins Ohr geflüstert, dass sie sich womöglich auch deshalb einander so nah fühlten.
„Wieso, weil ich Jungs mag und du auch?“
„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, dass mich Jungs nicht besonders interessieren? Außer dir, meine ich!“
Martin hatte sie ein Stück von sich weggehalten und geradezu ängstlich angesehen: „Du willst mir aber nicht ausgerechnet jetzt gestehen, dass du in mich verknallt bist, oder?“
Die Sorge war ihm deutlich anzumerken gewesen. Einen kurzen köstlichen Augenblick war Catharina versucht gewesen, ihren Freund ordentlich auf den Arm zu nehmen und die unglücklich Verliebte zu spielen. Doch ihre Vernunft – und mit ihr ihr gutmütiges Herz – siegte. Sie hatte die Umarmung erneuert und Martin ins Ohr geflüstert: „Nein, du eingebildeter Gockel, auch wenn ich meilenweit hier um dich herum die Einzige zu sein scheine, die nicht bis über beide Ohren in dich verliebt ist. Ich steh auf … na ja, auf Mädchen eben … oder mittlerweile wohl eher Frauen.“
Noch Jahre später hatten sie aus tiefstem Herzen über diese Situation lachen können, und wenn sie einander vorher schon sehr eng verbunden waren, war die Nähe zwischen ihnen danach noch intensiver geworden.
Martin war nicht nur ein sehr attraktiver, sondern zudem auch sehr selbstbewusster junger Mann. Doch er litt zunehmend darunter, ein Doppelleben führen zu müssen. Nach dem Abitur war er für zwei Monate in die USA gereist und hatte in den einschlägigen Bars New Yorks und San Franciscos nicht gerade seine Unschuld verloren, aber seinen Erfahrungsschatz doch erheblich erweitert.
Auch das Berlin der 1970er war nicht prüde zu nennen, doch der Paragraph 175 war noch in Kraft, und schwule Männer konnten ihre Bedürfnisse nicht ungefährdet offen ausleben.
Hinzu kam, dass Martin fest vorhatte, in die Fußstapfen seines überaus erfolgreichen Vaters zu treten und eines Tages seine renommierte Kanzlei zu übernehmen. Dass sein Vater Ende der 70er die Kanzlei mit einem Partner fusioniert hatte und die Kanzlei überwiegend gut betuchte, erzkonservative Berliner Großbürger vertrat, half Martin nicht eben dabei, seinen privaten Lebensstil mit dem öffentlichen in Einklang zu bringen.
Während des Studiums – beide studierten an der FU, Martin Jura, Catharina Geschichte, Germanistik und Anglistik – hatten sie zunächst in verschiedenen WGs gewohnt. Nach einigen Semestern waren sie der üblichen Auseinandersetzungen um Putzdienste und Klopapierkäufe allerdings überdrüssig und beschlossen, zusammen zu ziehen.
Nach kurzer Zeit der Suche fanden sie eine Wohnung in einer alten Villa in Lichterfelde, die in Bezug auf die Uni hervorragend lag, in Hinblick auf das Nachtleben hingegen lange und etwas umständliche Heimwege bedeutete. Dies wiederum führte dazu, dass beide die Nächte recht häufig in fremden Betten verbrachten.
Die Villa war für ihre Zwecke ideal, für andere Mieter wäre sie wohl eher unpraktisch gewesen.
Catharina und Martin bewohnten das Dachgeschoss.
Im ersten Stock wohnte eine ebenso sympathische wie unkonventionelle Familie, die Heines, mit drei pubertierenden Kindern und Eltern, die zwar getrennt und jeweils neu liiert waren, der Kinder zuliebe aber dennoch weiter gemeinsam wohnten.
Und im Erdgeschoss wohnte Frau von Steinfeld, die eigentliche Besitzerin der Villa, der das Haus jedoch im Alter zu groß und zu einsam geworden war.
Keinen der Bewohner schien es zu stören, dass die drei Wohnungen nicht wirklich voneinander abgetrennt waren, wobei es Catharina und Martin dennoch recht war, das Dachgeschoss zu bewohnen, was noch am ehesten etwas Privatsphäre bot.
In den Sommerferien konnten sie ausgelassene Partys veranstalten, da Heines die Ferien immer in ihrer Finca in Spanien verbrachten und Frau von Steinfeld meist zur Kur nach St. Peter-Ording fuhr.
Für die Sommermonate brachten sie gemeinsam mit den Nachbarskindern Anfang Juni den ziemlich betagten Pool in Schuss, so dass sie abwechselnd im Pool und im Wannsee baden konnten, was Catharina als geborene Wasserratte liebte.
Kurz vor dem Examen zogen sie gemeinsam in eine Wohnung in Schöneberg, nachdem Frau von Steinfeld einen Schlaganfall erlitten und beschlossen hatte, die Villa zu verkaufen. In der neuen Wohnung, einer typischen Berliner Altbauwohnung, fühlten beide sich richtig zuhause. Die Wohnung war riesig, beide hatten ein eigenes Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer. Darüber hinaus teilten sie sich ein gemeinsames Wohnzimmer, eine Art „Kreativzimmer“ in dem Martins Flügel stand und Catharinas Cello ebenso Platz hatte wie ihre Leinwände. Für die zahlreichen Übernachtungsgäste gab es ein Zimmer, das ehemalige Dienstbotenzimmer. Und ein separates Esszimmer gab es noch zusätzlich zur gemütlichen Wohnküche, die über einen Aufgang zum hellen Hinterhof verfügte. Die Wohnung war in der Tat so mondän, dass sogar Martins, und selbst Catharinas, Eltern sie für standesgemäß befanden.
Während dieser Zeit wiegten sich beide Elternpaare in der scheinbaren Gewissheit, Martin und Catharina seien ein Liebespaar. Martin war das aus den bekannten Gründen nur recht, erleichterte es sein anstrengendes Doppelleben doch um einiges. Und Catharina war es leid, die zermürbenden und häufig verletzenden Diskussionen mit ihren Eltern zu führen.
Ihr Vater war ein renommierter Heidelberger Herzspezialist, der, als Catharina dreizehn war, einen hochdotierten Posten an einer Berliner Privatklinik angenommen und die Familie aus dem beschaulichen, wenngleich etwas provinziellen, Städtchen am Neckar in die Großstadthölle, wie Catharinas Mutter die spätere Hauptstadt zu nennen pflegte, verpflanzt hatte.
Während des Jahres vor dem Umzug hatte es zwischen den Eltern noch mehr und noch lautstärkere Streitereien gegeben als ohnehin schon üblich, und Catharina hatte, von den Eltern unbemerkt, eines Tages eine Diskussion belauscht, in der der Vater anbot, ihrer Mutter die Villa in Heidelberg sowie ein großzügiges monatliches Taschengeld zu überlassen.
Catharina hatte nie wirklich verstanden, weshalb ihre Mutter dieses Angebot damals nicht angenommen oder was ansonsten dazu geführt hatte, dass schließlich doch die gesamte Familie Düsterweg nach Berlin umzogen war. Falls ihre Mutter gehofft hatte, sie und ihr Mann würden trotz seiner zahlreichen Affären noch einmal zu einander finden, musste ihre Hoffnung in den folgenden Jahrzehnten bitter enttäuscht worden sein.
Mit Anfang Zwanzig hatte Catharina mehrfach den Versuch unternommen, ihre Eltern von ihrem Lesbischsein in Kenntnis zu setzen, der jedoch regelmäßig daran scheiterte, dass ihre Mutter behauptete, das sei nur eine Phase. Ihr Vater hingegen vertrat sogar allen Ernstes die Ansicht,