In der Umarmung zwischen zwei Schritten. Anton Volkov

In der Umarmung zwischen zwei Schritten - Anton Volkov


Скачать книгу
ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte: La Viruta, Villa Malcolm und Salon Canning.

      Was ich bei meiner Ankunft auch nicht wusste, war, dass gerade in diesem Zeitraum das C. I. T. A.-Festival begann, das Event aller Events des Tangotourismus, wohin alljährlich zahlreiche Liebhaber des Tango Argentino aus der ganzen Welt reisen.

      So trat ich am Abend völlig aufgeregt in den Salon Canning und stellte mich mit der ausgewählten Tanguera sofort in die Ronda. Mirada, Cabeceo, alles war perfekt gelaufen. Ich war ziemlich erleichtert. Der Anfang war schon einmal geschafft. Aber alle meinen bis dahin gesammelten Lebenserfahrungen hatten mir kurze Zeit später nichts genützt. Ich hatte naiverweise erwartet, man würde mich mit offenen Armen erwarten. Ich war doch so weit gereist! Was danach kam, damit hatte ich nicht gerechnet.

      In den darauffolgenden Sekunden machten noch ungefähr mehrere hundert TangotänzerInnen genau das Gleiche, Touristen, die so wie ich nicht wussten, dass man als erfahrene Tanguera und erfahrener Tanguero nicht zu Beginn einer Milonga an der Eingangstür steht und bis Mitternacht versucht, so viele Tandas wie möglich aufs Parkett zu legen. Auch von den Códigos hatten viele von uns nicht wirklich eine Ahnung. Die Tanzfläche ähnelte eher einem mit Autoscootern überfüllten Rummelplatz. Da stand ich nun da. Gelähmt. Überfordert. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Ich konnte nicht einmal den winzigsten Schritt aller Schritte machen. In keinste Richtung. Ich war eingequetscht zwischen verschwitzten Körpern, gefesselt in einer stehenden, pulsierenden Masse in dem – angenehm abendlich – auf 29 °C gekühlten Saal. Die einzigen Anlagen, die diese erhitzte Wolke an Fleisch und Blut hätten mildern können, waren riesige Ventilatoren, die unter der Decke hängend die Dunstigkeit, den Zigarettenqualm und die Seufzer der Tangueras in einen brennenden Cocktail meines Jungfernbesuches der glorreichen Milonga in der Wiege des Tango Argentino mixten. Meine Gedanken schweiften zu dem Morgen des Vortages im kalten Moskau und ich fühlte mich so, als ob ich eine Kugel Opium verschluckt hätte – ich war genau dort, wo ich seit Monaten sein wollte. Aber…

      Ich versuchte, auf kleinstem Raum zu tanzen, wie mir das meine TanzlehrerInnen beigebracht hatten, und dachte mir, man müsse verdammt gut sein, um in einer solchen Sardinenbüchse überhaupt einen Schritt machen zu können. Wären alle TangotänzerInnen wie selbstfahrende Fahrzeuge mittels intelligenter Technologie miteinander vernetzt und würden wir uns kontinuierlich elektronische Signale miteinander austauschen, gäbe es keine Zusammenstöße. Und wären wir auch noch entsprechend vorprogrammiert, um in Richtung der vorgeschriebenen Ronda zu tanzen, wären meine ersten Tandas in Buenos Aires sicherlich etwas anders ausgefallen. So aber musste ich mich ausschließlich auf meinen gesunden Menschenverstand verlassen.

      Das C. I. T. A.-Festival, das in die Stadt einen dichteren Tangopuls bringt und die damit verbundene Industrie zu einem um mehrere Umdrehungen schnelleren Tempo antreibt, dauert zehn Tage. In diesem Zeitraum gastiert das Festival bei den regelmäßigen Milongas der städtischen Tangoclubs, jeden Abend in einem anderen Club. Ganze Cliquen von TangotänzerInnen aus aller Welt wandern im fliegenden Wechsel durch die Stadt.

      Was ich erst später lernte, um 2 Uhr morgens treffen sich die guten einheimischen Tangueras und Tangueros im La Viruta-Club, zu jener Stunde, zu der Otto Normalbürger den Schlaf des Gerechten schläft, und dort keine Eintrittsgebühr mehr erhoben wird. Das wahre Tango-Buenos Aires kann man also in der Regel erst ab 2 Uhr nach Mitternacht erleben, aber es gibt auch einige gute Nachmittagsmilongas, wo man den traditionellen Tango erleben kann.

      Einheimische wird man auf den Festivalmilongas kaum treffen. Diese machen um die Milongas im Rahmen des C. I. T. A.-Festivals einen großen Bogen, außer Jenen natürlich, die versuchen werden, ihr Geld zu verdienen.

      Dazu gehören die sog. Taxis, erfahrene Tangueros, aber auch Tangueras, die gegen eine bestimmte Gebühr für einen bestimmten Zeitraum als TanzpartnerIn engagiert werden können. Dadurch kann man also für mindestens vier Stunden zu je dreißig Dollar einen guten Tanzpartner bzw. eine gute Tanzpartnerin exklusiv an seiner Seite haben. Getränke und Speisen sind im Preis nicht inbegriffen; es versteht sich jedoch von selbst, dass ein Taxi-Tanguero oder Taxi-Tanguera auch essen und trinken muss. Dazu kommt noch die Eintrittsgebühr für die Milonga. Dafür wird man dann aber bei der gewünschten Veranstaltung von einem exklusiven Tanzpartner bzw. einer exklusiven Tanzpartnerin begleitet.

      Taxitänzer sind in der Regel gute Tangueros bzw. gute Tangueras, einige unter ihnen sogar sehr, sehr gute. Einer von ihnen war Luis, Argentinier, den ich in Buenos Aires kennen lernte. Der Typ tanzte wie ein Wirbelsturm, er war ein wirklich außerordentlicher Tangotänzer. Ich wunderte mich, warum um Gottes Willen er als Taxitänzer arbeiten müsse. Ich fand ihn einfach zu gut dafür. Zwei Jahre später traf ich ihn in Moskau wieder. Dieses Mal als Tangolehrer. Als Taxitänzer lernte er eine Tangolehrerin und Organisatorin von Milongas aus Moskau kennen. Diese Bekanntschaft führte zu einer Einladung, mit der Dame einen Monat in Moskau zu unterrichten. Später zog er sogar nach Russland, heiratete und ist heutzutage als anerkannter Maestro auf Tourneen durch das ganze Land unterwegs. Mittlerweile war er sogar bereits zweimal in Folge Finalist bei den Tango-Weltmeisterschaften in Buenos Aires, dem sog. Festival y Mundial de Tango. Ja, auch ein Taxitänzer kann Geschichte schreiben.

      Ich stellte also fest, dass man als Tourist in Buenos Aires Einheimischen begegnet, die Tangueras und Tangueros – Taxitänzer und Maestros – sind. Das sind jene Menschen, die einen mit offenen Armen empfangen. Auch luxuriöse Hotels und Restaurants, die keinen Gourmet-Wunsch offen lassen, freuen sich über den Besuch von Touristen. Man kann ausgezeichnet essen und trinken. Gut gekühlter Champagner fließt in Kristallgläsern, wenn man sich das leisten kann. Auch richtige Taxis der Marke Mercedes heißen dich willkommen, um dich von dem einen Maestro zum anderen zu fahren, oder zur Milonga. Geschäfte mit Tanzausstattung. Hauseigentümer, die Tanzräume zu Stundensätzen vermieten. Einen Tanzraum kann man sich für die eigene Privatstunde mit dem Lehrer in Häusern, Wohnblocks, Wohnungen mieten. Manch ein Vermieter wird nur die Möbel etwas auseinander rücken und die freigeräumten Quadratmeter für die Privatstunde zur Verfügung stellen. Oder nur ein halbes Zimmer. Manchmal hat man Glück und der gewünschte Maestro höchstpersönlich wird bei sich zu Hause die Möbel zur Seite schieben, den Teppich zurückrollen, um mit dir die Privatstunde durchführen zu können. Dann braucht man keine Miete zu bezahlen.

      Etwas anders gestaltet sich die Sache, wenn man eine Milonga erleben möchte, wo Einheimische tanzen, für die der Tango keinen Verdienst darstellt. Da ich diesen ursprünglichen Tango, den von den Einheimischen getanzten Tanz kennenlernen wollte, ließ ich nichts unversucht, um dem Tango auf den Grund zu kommen. Erst in Buenos Aires stellte ich fest, dass die Einheimischen den Tango eifersüchtig bei sich halten und ihn nicht mit dem Tourismus infizieren möchten. Sie nennen diese Milongas traditionelle Milongas. Dort gibt es keine Abweichungen von den strengen Tangoregeln, den Códigos. Wenn man sich auf einer solchen orthodoxen Milonga einfindet, wird man um ein Jahrhundert zurückversetzt. Erst auf den traditionellen Milongas verstand ich, im wahrsten Sinne des Wortes, wie viele Überlegungen darin investiert wurden, um die Würde jedes einzelnen Menschen, der den Tanzabend besuchte, zu bewahren. Man verständigt sich wortlos und wahrt das Gesicht. So konnte ich – und werden alle Besucher – diesen Ort des Tangoursprungs erleben: einen sehr diskreten, intimen Ort eines angenehmen Beisammenseins. Die Tanzaufforderung erfolgt nur mittels Mirada und Cabeceo. Spricht man als Mann eine Frau an und fordert sie zum Tanz auf, zieht man sich wortwörtlich selbst aus dem Verkehr, und man kann dann warten, bis einem ein langer Bart wächst. Die Chancen nach diesem Fauxpas, eine Tanda zu bekommen, liegen bei null.

      Ich hatte zwar darüber gelesen, glauben konnte ich es aber erst, als ich mich mit meinen Augen selbst davon überzeugen konnte: Frauen sitzen auf der traditionellen Milonga auf der einen Seite der Tanzfläche, Männer auf der gegenüberliegenden. Als ich den Raum einer solchen traditionellen Milonga betrat, konnte ich nicht verbergen, dass ich Tourist war. Auch wies mir der Organisator einen ziemlich ungünstigen Platz zu, wodurch ich mich


Скачать книгу