ZeitenSprünge. Marianne Brugger

ZeitenSprünge - Marianne Brugger


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gewesen, etwas Essbares in ihrer Schürzentasche verschwinden zu lassen. Auch während des Abendessens schaute der Vater immer wieder zu ihr herüber. Oder beobachtete er etwa Marie? Ihre Schwester ging auch allzu sorglos mit der Situation um. Heute Morgen hatte sie auf dem Rübenacker damit geprahlt, dass es ihr nichts ausgemacht habe, auf einen saftigen Apfel zu verzichten. Der Vater hätte sicherlich Lunte gerochen, wenn er dies gehört hätte.

      Obwohl das abendliche Erfrischen im hofeigenen Bach das einzige Vergnügen war, das man den Fichtner Kindern während der Sommermonate vergönnte, blieb Thekla an diesem Abend im Haus. Dem Frieder ging es gar nicht gut, allmählich schlug seine niedergedrückte Stimmung in Aggression um. Doch anstatt für ihre Fürsorge dankbar zu sein, warf er Thekla vor, dass sie Schuld an seiner Misere habe, schließlich hätte er ohne ihr Zutun das „Schlimmste“ längst hinter sich.

      „Lang halt ich´ s hier herinnen nimmer aus!“, klagte der magere Blondschopf angesichts seiner prekären Lage eine Spur zu laut!

      „Psst, sei leise! Wenn dich der Vater hört!“

      „Kann er gar nicht. Er ist gleich nach dem Nachtmahl zum Wirtshaus hinüber gegangen!“

      „Hast du etwa aus dem Fenster geschaut? Frieder! Das ist doch viel zu gefährlich!“

      „Gefährlich, gefährlich!“, äffte Frieder seine Schwester nach. Wenn es nach dir ginge, müsste ich den ganzen Tag im Schrank sitzen und dürfte keinen Mucks von mir geben!“

      Psst, leise!“, ermahnte Thekla ihren Bruder nochmals. „Die Mutter könnte jeden Augenblick kommen!“

      „Die Mutter fragt sich wahrscheinlich eh schon, warum immer die Schranktür knarrt, wenn sie die Treppe heraufkommt. Außerdem hat sie mich sicherlich schon einmal reden hören. Sie muss ich nicht fürchten. Niemals würde sie eines ihrer Kinder verraten!“

      Welches Thema Thekla an diesem Abend auch anschnitt, Frieder fand stets Widerworte. Plötzlich drang von der Diele ein tiefes, kehliges Husten herauf. Die Geschwister sahen sich erschrocken an. Der Vater! Warum kehrte er heute schon so früh aus dem Wirtshaus heim? Seit wann stand er schon da unten? Hatte er sie etwa reden hören? Instinktiv sprang Thekla auf und verriegelte, so leise wie möglich, die Tür. Langsam stieg der Vater die Treppe herauf. Mit jedem seiner schweren Schritte steigerte sich das Pochen in Theklas Brust. Mit schreckerstarrten Augen sah sie zu ihrem Bruder hinüber. Frieder saß aufrecht im Bett, das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Jetzt war der Vater auf der obersten Treppenstufe angelangt und forderte mit drohendem Unterton in der Stimme: „Macht sofort auf!“

      In der Kammer blieb es mucksmäuschenstill, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Thekla war unfähig, sich zu bewegen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Knie zitterten und ihr Herz klopfte nun so heftig, dass sie meinte, man könne es hören.

      „Thekla, ich weiß, dass du hinter der Tür stehst. Mach sofort auf, sonst bist mit dran!“, drohte der Vater mit wutentbrannter Stimme.

      Theklas Gedanken überschlugen sich. Wenn sie sich Vaters Befehl widersetzte, würde er die Tür gewaltsam öffnen und dann würde sich sein Zorn auch über ihr entladen. Für Frieder gab es so oder so kein Entkommen mehr. Auf Vaters scharf gezischtes „Thekla“, zog sie mit einem Ruck den Riegel zurück, drängte sich blitzschnell an ihm vorbei und rannte die Treppe hinunter. Der Gedanke, mit anhören zu müssen, wie der Vater über den Frieder herfiel, ließ sie zum nahe gelegenen Wald flüchten. Getrieben von den schmerzerfüllten Schreien ihres Bruders achtete sie nicht auf das Gestrüpp, das ihre Haut aufriss, rannte immer weiter in den Wald hinein...

      Am nächsten Morgen blieb Frieders angestammter Sitzplatz – am äußeren Ende der langen Eckbank ­­­­­­­­– unbesetzt. „Hat sich der Kräppel etwa schon wieder verkrochen?“, fragte der Roterbauer unwirsch dessen Bruder Franz, der mit seinem wenig gelittenen Sohn in der früheren Gesindekammer schlief.

      Franz nagte an seiner Unterlippe, bevor er zögernd antwortete: „Den Frieder hab ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen!“

      „Ja, hat´ s dem gestern noch nicht g´ langt?“ Jakob Fichtners finsterer Blick glitt über seine am Tisch versammelte Nachkommenschaft. Dass es mir ja keiner wagt, den Frieder nochmals zu verstecken!“, drohte er mit finsterem Blick.

      Zu Theklas Überraschung ergriff nun die Mutter das Wort: „Jetzt sei heut mal ein bisschen nachsichtig mit dem Buben. Er ist halt ein besonders Empfindsamer. Wenn er Hunger hat, kommt er sicher wieder aus seinem Versteck!“

      Was keiner vermutet hatte: Der Vater lenkte durch ein stummes Kopfnicken ein, stand auf und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zum Tagesgeschäft über. Doch Frieder blieb auch am Abend verschwunden. Diesmal sorgte sich Thekla nicht mehr um ihren Bruder. Im Gegenteil – sie war sogar ein wenig wütend auf ihn. Warum forderte er Vaters Geduld erneut heraus? Nur der Mutter stand der Gram ins Gesicht geschrieben. Aus irgendeinem – für Thekla unerfindlichen – Grund beunruhigte sie sein Verschwinden mehr als beim letzten Mal. Stumm, das Kopftuch tief in die Stirn gebunden, saß sie teilnahmslos am Tisch. Das Abendbrot rührte sie nicht an.

      Am nächsten Tag musste Thekla früh aufstehen. Der Vater hatte bestimmt, dass sie beim Heuen helfen müsse. Dass er dies mit den Worten: „Den Frieder kannst zwar nicht ersetzen, aber für ein Mädel schaffst ordentlich was weg!“, getan hatte, hatte Theklas Ehrgeiz geweckt. Obgleich es ihr auch ein wenig bang war, der Vater hatte sie noch nie zuvor für diese Schindarbeit eingeteilt, gesellte sie sich, trotz der frühen Zeit, gutgelaunt zu ihren Brüdern, die vor der Scheune auf den Vater warteten.

      Es war eine mondhelle Nacht, die durch die aufgehende Sonne unmerklich an Dunkelheit verlor. Nach einer Weile trat auch Jakob Fichtner aus dem Haus. Mit seinem schweren Gang, die Haare wirr vom Kopf abstehend, ging er auf seine Helfer zu. Schlecht gelaunt raunzte er die Wartenden an: „Hat denn noch niemand die Kuh eingespannt?“

      Auf Franzens Entschuldigung: „Wir haben nicht g´wusst, ob wir die Fleck oder die Resi nehmen sollen!“, grummelte der Roterbauer mit seiner tiefen Stimme: „Spannt die Fleck ein!“ Im gleichen unwirschen Tonfall schuf er Thekla an, im Holzschuppen zwei starke Unterlegscheite zu holen.

      Thekla betrat, in gebückter Haltung, den Boden nach Stolperfallen absuchend, den Schuppen. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit im Innern. Mit den Händen prüfte sie, ob die Holzscheite, die neben dem Spaltblock auf dem Boden lagen, als Bremskeil für den Heuwagen taugten. Endlich hatte sie zwei stärkere Asthölzer gefunden. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick in die linke hintere Ecke des Schuppens. Thekla fuhr das Entsetzen in die Glieder, ein lautloser Schrei erstarb in ihrer Kehle. Dort drüben, auf Augenhöhe, baumelten die Beine ihres Bruders Frieder!

      Bei der Beerdigung sprach der Pfarrer viel von Schuld. Der eigenen, aber auch von den Verfehlungen der anderen. Am längsten sprach er über Frieders Schuld, die dieser durch seine Selbsttötung auf sich geladen habe. Als er seine Predigt mit den Worten schloss: „Es erbarme sich unser der allmächtige Gott, der uns unsere Sünden vergibt“ und die Gemeinde in das „Vater Unser“ einstimmte, sah Thekla zum großen Holzkreuz hinüber und hielt ein stummes Zwiegespräch mit dem Gekreuzigten. Wer weiß, vielleicht werde auch ich einmal vergeben können – vielleicht sogar dem Vater, hoffte sie. Sie war sich nur eines gewiss: Sich selbst würde sie ihr Leben lang nicht verzeihen können, dass sie vor drei Tagen dem Vater die Tür geöffnet hatte.

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