müllersches volksbad. Markus Seidel
Nun musste ich handeln. Ich wandte mich an die Jägerin, tippte mit dem Zeigefinger auf meine Reservierung und erklärte ihr höflich, dass sie auf dem falschen Platz säße. Ich sprach etwas lauter als sonst, sie war schließlich nicht mehr die Jüngste und ich wollte nicht alles zweimal sagen. Sie sah sie mich an und strich ihren Rock glatt. Blieb sitzen. Dieser Platz sei reserviert, sagte ich, noch etwas lauter, und versuchte, höflich zu bleiben. Hatte sie mich überhaupt verstanden? Ich lächelte, versuchte, ein mitleidiges Gesicht zu machen und warf dann dem Schönen ein Blick zu. Er erwiderte ihn, allerdings nur kurz, dann schaute er zum Fenster hinaus. Wie rührend schüchtern er ist, dachte ich. Richtig süß.
Ich bräuchte nicht so zu schreien, sagte die Alte leise, sie sei schließlich nicht taub. Dann murmelte sie etwas vor sich hin, das ich nicht verstand, und war schon im Begriff, aufzustehen. Plötzlich aber hielt sie inne, als der Schöne sich zu Wort meldete und mich bat, die Frau am Fenster sitzen zu lassen. Ich blickte zunächst irritiert und wollte etwas erwidern, als er hinzufügte, dass die Dame bereits seit zehn Minuten hier säße und ich schließlich eben erst gekommen sei. Komisches Argument, dachte ich. Zweifellos war die Rechtslage geklärt - der Fensterplatz war meiner, gleichgültig, wer auch immer hier zuerst aufgetaucht war. Ich ließ mich nicht beirren. Männer mögen Frauen, die konsequent bleiben, dachte ich, und wies erneut höflich aber entschlossen auf die Reservierung hin. Plötzlich aber stand der Schöne auf, strafte mich mit strengem Blick und bot der Dame seinen eigenen Platz am Fenster an. Plötzlich fiel mir auf, dass er eigentlich viel zu dünn war für seine Größe. Seine Füße waren riesig, seine Lippen zu schmal, er hatte einen klassischen Strichmund, den ich tatsächlich noch nie gemocht hatte. Ich wunderte mich, dass mir das alles nicht schon viel früher aufgefallen war. Schlichte Schönheit - nun ja. Strenggenommen war sie bloß schlicht. Ich würde mich nicht auf ihn einlassen, so viel stand fest.
Die nächsten neun Stunden mussten wir es nun miteinander aushalten. Egal, dachte ich, wenn ich schon Zug fahren muss, dann nur am Fenster sitzend, selbst wenn es so schmutzig war wie dieses hier, darauf musste ich nun einmal bestehen. Eine Weile blickte ich stumm aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und zogen gegen die Fahrtrichtung davon, manche vereinigten sich mit anderen Tropfen. Hin und wieder verfolgte ich den einen oder anderen, bis er am Rand der Fensterscheibe verschwand.
„Darf ich fragen, bis wohin Sie fahren?“, hörte ich plötzlich den Hübschen fragen. Na bitte!, dachte ich erleichtert und war sofort wieder versöhnt. Offenbar hatte er eingesehen, dass man sich arrangieren muss, will man neun Stunden auf wenigen Quadratmetern halbwegs friedlich verbringen. Schließlich waren wir erwachsene Menschen. Ich warf ihm also einen freundlichen Blick zu: „Bis Mün-“
„Bis Augsburg“, sagte die alte Dame. „Und Sie?“
„Bis München“, meinte der Hübsche.
„Ich auch!“, warf ich ein. Natürlich wurde es gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Na schön, sie wollten es so, ich würde nicht mehr mit ihnen reden. Ich brauchte keine Unterhaltung, im Gegenteil. Ich hatte zu arbeiten und holte meine Unterlagen zu Hunter S. Thompson hervor.
In den folgenden dreißig Minuten tauschten die beiden Frauen eine Kurzform ihrer jeweiligen Lebensgeschichte aus. Es war ermüdend und natürlich kam ich nicht zum Lesen. Man läuft sich über den Weg, dachte ich, und kann es kaum abwarten, sich kurzerhand die jeweiligen Biographien um die Ohren zu schmeißen. Entsetzlich. Die Alte, so erfuhr ich, war Psychologin, der Schöne studierte Jura. Herrgott, wie öde! Gut, dass er nicht mein Typ war. Bald schon wurde ich schläfrig. Ich legte die Unterlagen zurück in die Tasche. Ob es möglich sei, das Licht zu löschen, bat ich. Der Schöne blickte zu mir herüber und lächelte schwach: „Binden Sie sich einfach Ihren Schal um den Kopf“, sagte sie, „das ist fast wie Licht aus!“ Natürlich ließ ich den Schal da, wo er war und schloss trotzig die Augen. Während der nächsten Minuten sprach niemand ein Wort, und ich sank tatsächlich in leichten, angenehmen Schlaf. Der Rhythmus der Gleise, der prasselnde Regen gegen die Scheibe und das sanfte Schaukeln des Zuges taten ihr übriges.
Sie habe eine Frage, hörte ich plötzlich den Schönen sagen. Bestimmt gäbe es eine psychologische Erklärung für sein Verhalten, er wolle es also kurz einmal schildern, wenn es keine Mühe mache. Er sprach absichtlich laut, wie mir schien. Ich ließ mir nichts anmerken und hielt die Augen geschlossen. Überlegte kurz, ob ich ein Schnarchen simulieren sollte.
„Und zwar geht es um Folgendes“, begann er. „Vor kurzem war ich mit meiner Freundin im Urlaub. In unserem Hotel waren auch deutsche Touristen. Jeden Morgen sind sie ganz früh zu den Liegen am Pool gegangen, um sie mit ihren Handtüchern zu reservieren. Meine Freundin und ich haben das zuerst natürlich nicht mitgemacht. Aber weil wir nie eine Liege hatten, haben wir nach drei oder vier Tagen auch diese Handtuchmethode angewandt. Komischerweise hatten wir bald überhaupt keine Gewissensbisse mehr.“
Was sollte das jetzt? Ich öffnete die Augen und blickte irritiert zu ihr herüber. Sie erwiderte meinen Blick, verzog eigenartig den Mund und wandte sich dann wieder an ihre Sitznachbarin. Die Alte grinste verständnisvoll und nickte.
„Ich meine, zuerst fanden wir das auch blöd, was die anderen machten“, fuhr er fort, „und dann waren wir um nichts besser! Und hatten nicht mal ein schlechtes Gewissen! Es ist unglaublich.“
Die Alte lächelte wissend. „Ja, interessant“, sagte sie und strich sich über den Rock, „aber überhaupt nicht ungewöhnlich. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Erklärung dafür.“ Sie machte eine Pause. Offenbar wusste sie, wie man Spannung erzeugt. Die Hübsche rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her. Ich ahnte, was nun käme: Vermutlich irgendein psychologischer Mumpitz - schwierige Kindheit, schlechte Träume, was auch immer.
„In einem solchen Fall sind Sie gewissermaßen infiziert worden“, meinte die Psychologin. Die Hübsche lachte mit offenem Mund. Sie hatte makellose weiße Zähne.
„Sie sind sozusagen der Wirt“, fuhr die Alte fort, „und zwar der Wirt eines Virus of the mind, eines Virus des Geistes.“ Jetzt horchte ich doch auf. Die Frau hatte etwas zu sagen, zweifellos.
„Ein Evolutionsforscher, Dawking oder Dawkins, ich weiß es nicht mehr genau, ging davon aus, dass sich nicht alle Phänomene unseres Lebens mit unseren Genen erklären lassen. Vor allem nicht die kulturellen Angelegenheiten, verstehen Sie?“ Was genau sie mit kulturell meine, wollte der Schöne wissen. - Moden zum Beispiel, oder Melodien. Oder bestimmte Verhaltensweisen, wie eben diese Handtuchmethode. - Und was dafür verantwortlich sei, wenn nicht die Gene? - Es seien die sogenannten Meme, erwiderte die andere. Durch Imitation oder auf anderen Wegen, die aber nicht genetisch sind, würden bestimmte Verhaltensweisen weitergegeben. Jeder wolle zum Beispiel einen Liegestuhl haben, und die Methode, ihn durch das Handtuch rechtzeitig zu reservieren, setze sich durch, weil sie Erfolg habe und wegen der Mehrzahl derjenigen, die sie anwenden, praktisch die einzige sei, um an eine Liege zu kommen.
Die nächste halbe Stunde sprachen die beiden über die kleinen Sünden des Alltags, um die man leider nicht herumkomme und so weiter - es war ermüdend, ich versuchte nicht hinzuhören. Zurück würde ich fliegen, dachte ich. Bloß keine lange Zugfahrt. Wieso eigentlich war ich nicht gleich geflogen? Ich blickte aus dem Fenster. Viel sehen konnte ich nicht, es war längst dunkel. Hin und wieder sah ich die Lichter eines Hauses vorbeiziehen oder die Scheinwerfer eines Autos und verfolgte sie mit den Augen. Die Alte holte bald eine Zeitschrift aus ihrer Handtasche, die neben ihr auf dem Nachbarplatz lag. Eine der sinnlosen Zeitschriften, die auch Daniel immer las. Ich band mir kurzerhand meinen Schal um den Kopf, das war fast wie Licht aus, und merkte, wie müde ich war und wie anstrengend die vergangenen Tage.
„Was ist“, hörte ich den Schönen sagen, ich war schon beinahe eingeschlafen, jetzt war ich wieder wach, „haben Sie Lust, ins Bordtreff zu gehen?“ Er hatte tatsächlich Bordtreff gesagt! Manche Menschen nehmen einfach jeden Schwachsinn bereitwillig auf, selbst die idiotische Terminologie der Deutschen Bahn. Und war nicht aus dem Bordtreff inzwischen das Zugrestaurant geworden? Ich war wirklich froh, dass er mir nicht gefiel. Die beiden gingen, ich atmete auf. Vermutlich würde sie im Bordtreff auf mich warten, aber das interessierte mich jetzt nicht mehr. Endlich hatte ich meine Ruhe. Nach einer halben Stunde war