AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND. Erhard Schümmelfeder

AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND - Erhard Schümmelfeder


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sich rück­wärts ge­hend aus dem Beobachtungsraum, in dem ich nun allein Zeuge des weiteren Ge­sprächs zwischen Macuthee und Delila wurde.

      »Halte ich denn, was ich verspreche?« wollte sie wissen.

      »Bestimmt -«, flüsterte er zuversichtlich.

      Sie schluckte und blickte ihm versonnen tief in die Augen. Kaum vernehmbar hauchte sie die zärtlichen Worte: »Probieren wirs aus?«

      Dann gingen sie auf ihr Zimmer, fernab jeder Ka­me­ra, jeder einsatzbereiten Wanze, um das Unaussprechliche zu tun. Ich versuchte zu läu­ten, aber die Glocke hatte keinen Plöckel; auch der Alarmknopf, den ich betätigte, zeigte keine Wirkung - wahr­schein­lich schliefen die Wachen betrunken, wie so oft, draußen im Garten. Ich lief durch die Seitenflü­gel des Pa­lastes, stolperte über die Stufen einer Treppe, und er­reichte die Registratur der Bibliothek, wo ich Matcho Nolo traf, der hilflos in der Königli­chen Datei herum­suchte und ängstlich zusammen­zuckte, als er mich im Halb­dunkel erkannte.

      »Hoheit, ich bitte um Nachsicht!«, flehte er.»Wo - wo soll ich nur nachschlagen?«

      »Maul halten!«, befahl ich ihm. So­gleich verstummte er. »Wo ist das Zimmer des Mädchens?«

      Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts. Ich ärgerte mich über seine völlige Unfähigkeit und ver­stand zum ersten Male Vater, wenn er sich über den schleppend funktionierenden Be­amtenapparat be­klag­te. Es dauerte lange, bis wir zusammen genü­gend nüchterne Wachen mobilisiert hatten, um das Zimmer des Mädchens zu erstürmen. Ich selbst lei­tete die nächtliche Aktion. Ich wusste: Das Unaussprechliche war längst geschehen und ließ sich nicht mehr ver­hindern.

      Plötzlicher als ich erwartet hatte, stand mir Macuthee, beim Verlassen des Zimmers, gewarnt vom Lärm der säbelrasselnden Wa­chen, gegenüber. Einen Moment blickten wir uns nur grimmig an, zwei Todfeinde, die sich nichts zu sagen hatten.

      »Habe ich dich endlich erwischt!«, rief ich aus. »Wachen! Festnehmen!«

      Noch bevor die zögernd voranmarschierenden Po­sten ihn ergreifen konnten, schlug mir Macuthee eine Faust in die Fresse, wodurch ich hart auf die Flie­sen stürzte, kurz die Besinnung verlor und nicht ge­nau verfolgen konnte, was nun geschah. Ich nahm wahr: Ein metallischer Gegenstand flog ge­gen eine Dec­kenlampe... Handgemenge im Dunkeln. Kettengeklirr. Stoßenreißenfluchen. Geräusche brechender Knochen. Schreie. Gewimmer ...

      »Was ist geschehen?«, hörte ich mich in der Finsternis des Ganges rufen.

      »Was ist gestern Nacht hier geschehen?«, hörte ich am Vormittag des folgenden Tages Vater in seinem Amtszimmer fragen, erregt darüber, dass hier Dinge geschahen, von deren Entwicklung er nichts wusste. Mein Kopf steckte in einem Gipsverband, ich konn­te nicht antworten. Matcho Nolo beschrieb Vater, was sich ereignet hatte: Macuthee, der Mei­sterfliegen­fänger verbo­tenerweise im Zimmer einer Tänzerin; auf fri­scher Tat ertappt, nächtlicher Kampf im Palast; acht Wachen mit gebrochenem Nasenbein; Ali Abbas III. verletzt (Nasenbein); der Minister für alles Mögliche unverletzt (göttliche Fü­gung); Flucht des Fliegenfängers und der Tänzerin; Verfolgung der beiden bis zu den Klippen; Ret­tung der Flüchtigen durch einen to­desmutigen Sprung vom Felsen ins Meer; Verfolgung der Entkomme­nen durch die Haibucht; die Spur verloren am Ufer; weitere Flucht wahrschein­lich mit gestohlenem Ka­nu durch den Dschun­gel...

      »Ein Tausendsassa!«, rief Vater mit bewegter Stim­me.»Gut, der Mann!«

      »Hoheit, ich verstehe nicht -«, sagte Matcho Nolo zö­gernd.

      »Das ist ein Mann nach meinem Geschmack!«, sagte Vater mit deutlicher Begeisterung. »Kein Schwätzer, kein Waschlappen, sondern ein gan­zer Kerl mit Biss!«

      »Jawohl, mit Biss!«, stammelte der Minister für alles Mögliche.

      »Einer, der die Ärmel hochkrempelt und seine Sa­che anpackt!«

      »Anpackt. Jawohl!«

      Ich war sprachlos und verstand die Welt nicht mehr.

      »Holt mir diesen Burschen!«

      »Tot oder lebend, Hoheit?«

      »Lebend, ihr Narren!«, brüllte Vater und warf uns ei­nen verachtungsvollen Blick zu.

      Die Entwicklung des Geschehens war für uns un­be­greiflich. Vater ließ die gegen Macuthee erhobene Anklage noch am gleichen Tage fallen und verkün­dete persönlich über Rundfunk und Fernsehen die Nach­richt hierüber im ganzen Lande. Bereits wenige Tage später erhielt Macuthee Audienz im Palast des Sultans von Salima, um seine öffentliche Rehabilita­tion aus dem Munde meines Vaters zu vernehmen. Das war schlimm für mich. Vater gewährte Matcho Nolo einen Urlaub von einem Tag, um wäh­rend seiner Abwesen­heit ein neues Gesetz ins Leben zu rufen. Als Matcho Nolo, der auf sei­nem Posten als Minister für alles Mögliche rund und fett geworden war, nach Ablauf seines Ur­laubs zurückkehrte, klag­te er Vater sein Leid, indem er fassungslos berich­tete, sein Mini­sterpo­sten sei irrtümlich mit Macuthee besetzt wor­den.

      »Das ist kein Irrtum«, belehrte mein Vater ihn. »Du hast dich heute morgen um vier Minuten verspätet. Das neue Gesetz sieht für unpünktli­che Staats­diener eine empfindliche Strafe vor.«

      »Was für ein Gesetz?«, fragte der entgeisterte Matcho Nolo.

      »Weggegangen - Platz vergangen!«, erläuterte Va­ter ihm mit schlichten Worten den Inhalt der revolutionären Verfassungsänderung.

      Es blieb uns nichts anderes übrig, als verbittert dem Fortgang der weiteren Ereignisse tatenlos und macht­los zuzusehen.

      Macuthee feierte mit Delila Hochzeit. Eine lange Reihe mit Tischen, die sich durchs ganze Land - von der Meeresküste bis zu den staubi­gen Steinbrüchen Salimas - erstreckte, wurde aufgestellt und mit köst­li­chen Speisen und kühlenden Getränken beladen. Alle Einwohner un­seres kleinen Reiches waren zur Hochzeitsfeier eingeladen. Eine grandiose Oper mit dem Titel Der Fliegenfänger von Salima wurde mit über­wälti­gem Erfolg uraufgeführt. Lieder, Gedichte und Legen­den über den Fischersohn aus Me­scana gingen von Mund zu Mund ... Ich grämte mich vor Neid und Ent­täuschung.

      Als reformfreudiger Minister für alles Mögli­che setzte Macuthee wesentliche Veränderungen durch, die sogar die mürrische Opposition im Lande mit Va­ter versöhnten. Auch die Schulre­form stand auf dem Plan meines einstigen Klas­senkameraden. Ich selbst war das erste Opfer dieser für mich unerwarteten Ver­änderungen. Das Recht des ersten Schlages wurde kurzer­hand abgeschafft und durch das Recht auf Not­wehr ersetzt. Damit war ich so gut wie vogelfrei. Es versetzte meinem gedemütigten Herzen ei­nen weiteren schmerzvollen Stoss, als mein letz­tes Zeug­nis vom Di­rektor des Internats gnaden­los storniert wurde. Das hätte er nicht tun dür­fen. Ich dachte sogar daran, mei­nem Leben ein Ende zu setzen, nachdem ich die Auf­nahmeprü­fung an der Schule der Besten auch nach drei Anläufen nicht bestanden hatte, doch fasste ich neuen Mut und beschloss, mich in Abendkursen weiterzubil­den, um wenigstens in den mittleren Staatsdienst zu gelangen. Alle meine Kraftan­strengungen erwiesen sich als vergeb­lich, denn mir fehlte das, was Vater treffend den »richtigen Biss« nannte. Als ich Vater bei einem Mittags­mahl dezent darauf hinwies, auch ich wäre gern Minister für alles Mögliche geworden, verschluckte er sich fast an einem Hähnchenkno­chen und sagte verständnislos nur: »Quatsch!«

      Vom Leben und seinen harten, unmenschli­chen Be­dingungen ernüchtert, lungerte ich wo­chenlang im Pa­last herum, ohne Aussicht auf ei­ne rosige Zukunft, die man mir einst an der Wiese prophezeit hatte. Ich war restlos über­zeugt von meiner eigenen Unfähigkeit. Ich war am Ende... Am Strand von Salima legte ich mich in den warmen Sand und jammerte grämlich vor mich hin. Ich wartete auf die Flut, die sich mit schäumenden Wogen dem Ufer zu nähern begann. Zum Glück schlief ich ein, noch bevor die Wellen meinen ge­krümmten Körper er­reich­ten...

      Ein metallisches Geräusch weckte mich. Ich lag in meinem Internatszimmer. Es war später Nach­mittag. Wie lange hatte ich geschlafen?


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