Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1. Sophie Lang
wie Angst in ihren Augen.
Angst?
Was ist das eigentlich? Nur ein verwirrendes Gefühl aus der Vergangenheit, das hier im Kampf, auf Leben und Tod, nichts verloren hat.
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich triumphieren werde. Jesses Warnrufe nehme ich vereinzelt wahr. Er will schießen, seine Waffe abfeuern, doch ich stehe im Weg, was mir völlig egal ist, denn der Kampf ist gleich zu Ende.
Die Bestie reißt ihren Schlund auf. Übereinander liegende Zahnreihen, blecken mich an. Speichel trieft, spritzt und tropft in langen Fäden auf den Asphalt. Ihre Einschüchterungsversuche lassen mich kalt.
Ich reiße mein Schwert hoch und im gleichen Augenblick prallen wir aufeinander. Ich springe zur Seite, weiche ihrem Schwanz aus, der durch die Luft peitscht. Drehe mich um die eigene Achse, entfliehe dem aufgerissenen Maul, rolle mich unter dem tonnenschweren Körper durch und entkomme ihren rasiermesserscharfen Klauen.
In einer Vorwärtsbewegung nehme ich alle Einzelheiten wahr. Die Zeit scheint für eine Sekunde ihre ureigene Aufgabe vergessen zu haben, nur um uns zuzusehen. Den Atem anzuhalten und zu beobachten, was jetzt passiert. Wer überlebt.
Und dann entdecke ich die erhoffte Lücke, die einzige Möglichkeit, den Kampf jetzt zu entscheiden. Ich stoße mich wieder vom Boden ab, werfe mich schnell und langsam zugleich, absurd und trotzdem anmutig in die Luft, hechte unter den Körper der Bestie und nur knapp verfehlen mich ihre Fänge. Die Klauen greifen ins Nichts und dann bin ich da, direkt unter ihr.
Ich drehe mich im Flug, weiß, dass ich hart auf dem Rücken aufschlagen werde und dann reiße ich meine Klinge hoch.
Wie leicht es geht, schießt es mir durch den Kopf, als ich die Bauchdecke durchstoße und mein Schwert ins Herz der Bestie ramme. Dann, einen Atemzug zwischen zwei Ewigkeiten, krache ich mit der Seite auf den Asphalt. Der Schmerz in meiner Schulter überfordert meine Sinne.
Ich muss mich darauf konzentrieren, meinen Körper an seine Pflicht zu atmen zu erinnern. Irgendwie versuche ich, mich weg zu rollen, aber es gelingt mir nicht sonderlich gut.
So schnell ich noch kann, richte ich mich auf. Mein linker Arm hängt schlaff an meiner Seite herunter.
Meine Schulter?
Explodiert. Tobt vor Schmerzen.
Aber das muss mir egal sein, denn ich muss bereit sein für ihren nächsten Angriff.
Ich blicke sie an, wie sie regungslos daliegt.
Da begreife ich es. Es gibt keinen nächsten Angriff. Es ist vorbei.
Die Bestie ist tot. Sie liegt vor mir, erstarrt, die Augen noch immer geöffnet. Dann bin ich wieder mit mir beschäftigt. Mit meiner Schulter und den Schmerzen, die sich durch mich hindurchwälzen.
„Freija? Alles okay? Bist du verletzt?“, höre ich Jesses Stimme wie aus weiter Ferne.
Ich sitze auf meinem Hintern und betrachte meinen linken Arm, der jegliche Befehle, stur verweigert. Jesse legt seinen Bogen neben mich.
„Verdammt, das sieht übel aus, Engel. Du bist schlimm verletzt“, sagt er sorgenvoll. Seine Augen versprechen nichts Gutes.
„Ach was, die Schulter wird schon wieder“, will ich sagen, aber ich bringe nur ein Flüstern hervor. Was ist los? Wo verdammt ist die Luft zum Atmen, zum Sprechen geblieben?
Jesse schaut ohnmächtig auf meinen Bauch. Warum um Himmels Willen der Bauch? Warum kümmert er sich nicht um meine kaputte Schulter?
Verwirrt schaue ich an mir herab und sehe massenhaft Blut, mein Blut. Unmengen Blut? Wo kommt das her? Sie muss mich doch erwischt haben.
Die Krallen, analysiere ich irgendwie, denn plötzlich und völlig unerwartet trifft mich der Schmerz in meinen Eingeweiden. Es fühlt sich an, als würde mir jemand mit einem verflucht großen Eisenhammer in den Bauch schlagen. Wieder und immer wieder.
Eine unvorstellbare Kälte kriecht in jede Faser meines Körpers. Sie kommt von der Bestie, die langsam aus meinem Blickfeld schwindet. Löst sich ihr Körper bereits in Luft auf oder bin ich es, denn meine Sinne scheinen zu schwinden.
Zum Glück nur die Sinne und nicht mein Leben, hoffe ich.
Verschwommen sehe ich Jesse. Seine Augen sind zwei Lichter in der Dunkelheit, die mich einspinnen, zu sich ziehen.
Was macht er da? Was sagt er zu mir? Ich kann ihn kaum hören. Er ist über mir und spricht mit mir. Wie aus einer anderen Welt, höre ich seine Worte.
„Bleib bei mir. Bleib wach!“, fleht er. Aber ich will jetzt schlafen. Bin müde. Erschöpft. Ich habe die Bestie besiegt, bin verletzt, brauche jetzt Ruhe und schließe meine Augen und alles wird plötzlich ganz friedlich und still.
Ich blicke in künstliches Licht, als ich sie wieder öffne.
Kapitel 2
Alle Erinnerungen sind sofort da. Das ganze Blut; mein Blut und die tote Bestie, die sich ins Nichts aufgelöst hat.
Jesse, der über mir war. Er muss es geschafft haben, mich hierher zu schaffen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er das angestellt hat. Wir waren mindestens vier Blocks entfernt von unserem Skygate. Skygate? So nennen wir unseren Schlupfwinkel.
Das Skygate nimmt die komplette 77. und 78. Etage des höchsten Wolkenkratzers von ganz Sektion 13 ein.
Sektion 13?
Früher habe ich einmal dort gewohnt, glaube ich, weil so recht erinnern, kann ich mich daran nicht.
In New York, so wie die Nunbones, also die gewöhnlichen Menschen, Sektion 13 nennen. Ich war auch einmal einer von ihnen, ein Nunbone. Aber das ist lange her und ich kann mich an nichts mehr aus dieser Zeit erinnern.
Lange her, überlege ich. Ich kämpfe jetzt seit fünf Jahren gegen die Bestien, aber es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Als ich elf war, haben sie mich gefunden.
Die Bestien.
Sie haben mich fast getötet. Das rätselhafte Zeichen, das sich wie eine Tätowierung, nur tausendmal schöner, über meinen ganzen Rücken erstreckt, erinnert mich jeden Tag daran. Ich sehe sie jeden Morgen im Spiegel, aber sie ist nur eine von vielen. Ich fasse an meinen Bauch. Eine von vielen wunderschönen Narben; Tattoos.
Jemand nähert sich der Krankenstation. Am Klang seiner Schritte erkenne ich Jesse und bevor er die Tür öffnet, schließe ich meine Augen und stelle mich schlafend. Ich höre, wie er den Raum betritt, die Tür behutsam hinter sich schließt und sich dann den Geräten widmet, an denen ich angeschlossen bin. Irgendetwas scheint ihn zu irritieren. Er fummelt an dem Schlauch, der an meinem Handrücken austritt, herum und prüft, ob er richtig sitzt, und drückt dann wieder ein paar Knöpfe an dem Monitor über meinem Kopf, der meine Lebenszeichen überwacht. Er nimmt meine Hand in seine Hand. Ich spüre seine Finger, wie sie mein Handgelenk umfassen, und muss mir eingestehen, dass ich es mag, wenn er mich so berührt.
Wir berühren uns häufig, das ist nur logisch, weil wir im Team die Bestien jagen.
Jesse ist ein fantastischer Fernkämpfer und ich bin seine Nahkämpferin, sein Engel, wie er mich immer nennt. Wir berühren uns auf der Jagd ständig. Wenn wir uns in einem engen Keller verstecken, wenn wir uns über Mauervorsprünge helfen oder wenn er mich, wie es jetzt wohl geschehen war, in das Skygate zurückgetragen hat.
Aber diese Berührung ist anders, sie hat fast etwas Zärtliches. Aber für Zärtlichkeiten darf es in unserer Welt keinen Platz geben. Das Wagnis ist zu groß, am nächsten Morgen aufzuwachen und allein zu sein, seinen Liebsten an die Bestien verloren zu haben, oder an die Sektion. Jesse und ich sind Freunde, mehr nicht. Aber in einer anderen Welt und unter anderen Umständen wären wir womöglich ein Paar. Darüber denke ich oft nach. Ständig, um genau zu sein.
Ich spüre meinen eigenen Puls, wie er gegen seine Finger pocht, so als wäre es ein kleines Lebewesen, das auf sich aufmerksam machen möchte. Jesse hat