Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
Ich bin gerührt. Marcel ist wie immer unglaublich lieb und hilfsbereit und mir kommen die Tränen. „Danke, Marcel!“, murmele ich und versuche sie zu unterdrücken. Aber das Ganze nimmt mich einfach unglaublich mit.
Marcel zieht mich an sich und legt seine Arme um mich. „Wenn doch endlich mal dieser ganze Scheiß vorbei wäre. Was muss noch alles passieren? Ich hoffe, ich kann Tim klarmachen, dass er dich genauso gehen lassen muss wie ich.“
Seine Worte treffen mich und meine Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich schluchze auf und lasse mich an seine Brust fallen.
Ellen legt eine Hand auf meinen Arm und ich fühle mich plötzlich schwach und schwindelig. Irgendwas zieht sich in meiner Brust zusammen und mir bleibt die Luft weg.
Marcel schiebt mich von sich weg, um mich anzusehen und ich registriere kurz seine grauen Augen und spüre noch, wie sich alles um mich herum zu drehen beginnt und meine Beine weich werden. Ellens aufgebrachter Ruf nach Erik ist das Letzte, was ich höre, bevor meine Welt dunkel wird.
„Carolin!“, höre ich Marcel entsetzt stammeln und spüre zwei starke Arme, die mich von ihm wegziehen.
„Carolin! Was ist passiert?“, höre ich Erik erschrocken fragen.
Ich öffne die Augen und sehe in sein Gesicht, das mich verunsichert mustert.
„Sie muss kurz ohnmächtig geworden sein“, höre ich Marcel antworten.
Ich schließe betroffen die Augen und denke nur: Marcel und Erik! Oh, bitte nicht!
„Kannst du uns fahren? Wir müssen sie nach Hause bringen“, höre ich Erik fragen.
„Pumpst du sie mit Drogen voll oder was? Die ist ja völlig fertig!“, höre ich Marcel zischen.
„Bestimmt nicht! Sie nimmt nichts von dem Zeug“, brummt Erik zurück. „Das muss der Stress sein. Fährst du uns jetzt oder muss ich ein Taxi rufen?“
Ich spüre, wie ich hochgehoben werde und höre eine Autotür, die geöffnet wird. Marcel höre ich noch böse Fluchen: „Das hoffe ich für dich, sonst bist du sowas von tot.“
Ich werde ins Auto gesetzt und spüre die starken Arme, die mich an sich drücken.
„Erik?“
„Ja, Schatz, ich bin da“, murmelt er leise an meinem Ohr und hält mich fest umschlungen.
Ellen höre ich auch neben uns, und Daniel, der sich wohl vorne neben Marcel setzt und ein aufgebrachtes: „Was ist das für eine Scheiße?“, murrt.
„Was für ein Aufgebot. Ich hoffe, ihr seid auch alle da, wenn andere Carolin dumm kommen. Sie wird das in nächster Zeit gebrauchen können“, höre ich Marcels schneidende Stimme wie durch einen Schleier zischen.
Es ist Daniel, der antwortet: „Da kannst du dich drauf verlassen.“
Das Auto setzt zurück und ich fühle, wie ich wieder ganz tief falle. Ich bin bei Erik und kann mich fallen lassen.
Von Daniels Worten werde ich wieder langsam an die Oberfläche gespült.
„Lass Erik mal machen. Das ist kein Problem.“ Ich spüre, wie ich hochgehoben und getragen werde. Ellen ist neben uns und fragt beunruhigt: „Soll ich Dr. Bremer anrufen? Er soll vorbeikommen.“
„Ja, bitte mach das“, höre ich Erik antworten und lasse mich wieder fallen. Ich bin so erschöpft und müde und irgendetwas lässt mich einfach nicht genug Kraft aufbringen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dennoch spüre ich, wie ich auf die weiche Matratze gelegt werde und meine Schuhe von den Füßen gezogen werden. Aber erneut kann ich nicht genug Kraft aufbieten, um mich der Welt zu stellen. Etwas scheint mich zu umklammern und festzuhalten.
Als ich dann doch etwas aus den Tiefen emporsteige, umschließt ein unangenehmer Druck meinen Oberarm und eine fremde, tiefe Stimme sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Beunruhigt kämpfe ich mich weiter aus der Tiefe, die mich immer noch seltsam gefangen hält. Ich schaffe es nicht, die Augen zu öffnen, um zu sehen, was passiert. Etwas in mir will einfach nicht gehorchen. Aber die Stimmen werden deutlicher und mich erreichen verständliche Wortfetzen.
„Ah, deine Freundin. Das freut mich für dich. Dann bekommt dein Leben mal etwas Normalität.“
Etwas streicht über meine Armbeuge.
„Du wohnst jetzt hier in Clemens Wohnung? Ach, sie wohnt hier. Naja, dann steht das wenigstens nicht mehr länger leer.“
Mir wird etwas in die Armbeuge geklebt.
„Das sieht mir nach einem kleinen Nervenzusammenbruch aus. Hat sie viel Stress oder belastet sie etwas extrem? Dass sie ohnmächtig wurde ist eine Schutzmaßnahme des Körpers. Sie braucht absolute Ruhe und keine Aufregung. Kannst du dafür sorgen? Sonst lasse ich sie ins Krankenhaus überweisen. Mit dem Beruhigungsmittel wird sie erst mal schlafen.“
Lauter Sätze, die aus dem Nichts an mich herangetragen werden. Ich spüre etwas Warmes meine Hand ergreifen und festhalten. Auch meine andere Hand wird genommen und ich höre Marcel leise raunen: „Das musste ja mal so kommen. Was in dem letzten halben Jahr alles passiert ist!“
Marcel? Oh nein! Was macht er hier? Erik wird ausflippen!
Ich will nicht schlafen. Ich darf nicht schlafen. Ich muss aufwachen, aufstehen, Erik zeigen, dass alles in Ordnung ist und Marcel hier nichts zu suchen hat. Eriks Stimme hatte ich immer nur wie ein verunsichertes Hintergrundrauschen gehört. Diese ganze Situation und Marcel … das muss ihn völlig überfordern.
Aber ich kann nicht. Mein Körper streikt. Etwas zieht ihn immer mehr in eine dunkle Tiefe. Meine Hände werden losgelassen. Ich werde etwas hochgezogen und ein Arm schiebt sich unter meinen Nacken. Ein warmer Körper drängt sich an mich und ein Arm hält mich an diese Wärme gepresst. Ich atme Eriks Geruch ein und will mich ganz zu ihm umwenden, aber mein Körper will nicht gehorchen. Doch die innerliche Unruhe wird langsam weniger und ich spüre die Panik abflauen, eigentlich funktionieren zu müssen, und das mit Marcel und Erik zu regeln. Ich kann nichts regeln. Ich kann gar nichts mehr.
„Passt du vernünftig auf sie auf?“, höre ich Marcel fragen und das holt mich wieder aus meiner Versenkung, in die ich immer mehr abzudriften drohe. „Vielleicht kann dein Arzt etwas tun, damit sie nicht zur Verhandlung muss. Sie wird das da nicht durchstehen. Sieh sie dir doch an! Sie ist nur noch ein Schatten!“ Marcels dunkle Stimme klingt aufgebracht und wütend.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Morgen früh kommt Dr. Bremer noch einmal vorbei und wird entscheiden, was passieren soll. Dann werde ich mit ihm noch einmal über alles reden und sehen, was er dazu meint. Soll ich ihre Eltern verständigen?“ Ich spüre an meiner Wange das leichte Zittern in Eriks Brust, der versucht mit der Situation klarzukommen.
Marcel antwortet ihm: „Das übernehme ich. Ich fahre da gleich sowieso vorbei und werde denen wohl sagen müssen, was wirklich los ist. Aber mir ist lieber, sie ist bei jemandem, der nach ihr sieht - und wer sich einen privaten Hausarzt leisten kann …“
„Danke! Du kannst dich darauf verlassen, dass ich bei ihr bleibe und auf sie aufpasse. Ich melde mich dann morgen bei dir und sage dir Bescheid, was Dr. Bremer entschieden hat“, höre ich Erik raunen.
„Ich lasse dir die Nummer von mir da.“
„Das brauchst du nicht. Ich habe sie.“
Während mein Innerstes immer dumpfer wird, verfolge ich das Gespräch der beiden Männer. Ich mache allen so viel Stress! Aber mein Innerstes will das nicht mehr wirklich registrieren und schaltet immer mehr ab. Ich höre Ellens Stimme, verstehe aber nicht mehr, was sie sagt. Irgendwie registriere ich noch, dass Marcel sich verabschiedet und sie ihn nach draußen begleitet und dann versinke ich in einen traumlosen Schlaf.
Als ich wieder wach werde, ist es um mich herum dunkel. Ich spüre den warmen Körper an meinem und höre dessen ruhigen Atem. Aber als ich versuche, mich zu bewegen, schreckt der Körper neben mir auf. Die kleine Nachttischlampe