Das Ende der Unendlichkeit. Erhard Schümmelfeder

Das Ende der Unendlichkeit - Erhard Schümmelfeder


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nicht mit schmutzigen Schuhen auf meinem Teppich“, beendete ich die Diskussion.

      „Ziehe sie sofort aus.“

      Fast ebenso schnell wie er es gesagt hatte, streifte er seine weißen Turnschuhe ab und stellte sie neben die Lampe auf meinem Schreibtisch.“

      War er dreist oder nur unbeholfen? Ich wollte ihn loswerden und fragte vorwurfsvoll: „Machst du das zu Hause auch so?“

      „Was?“, fragte er arglos.

      „Die Schuhe auf den Tisch stellen.“

      „Nee.“ Sofort nahm er die schiefhackigen Turnschuhe vom Tisch herunter und stellte sie mit demonstrativer Artigkeit neben den Kleiderschrank.

      „Gut so?“

      Ich hörte den Wagen meines Vaters draußen in der Einfahrt. Der Motor verstummte. Nach dem knarrenden Anziehen der Handbremse schlug die Tür zu. Schritte näherten sich auf knirschendem Kies.

      „Dein Vatter?“, fragte Klette aufhorchend.

      „Ja.“

      „Strenger Typ?“

      „Ziemlich streng“, übertrieb ich, weil ich hoffte, ihn mit diesem Argument vertreiben zu können.

      Das Ächzen der Holztreppe, die zu meinem Zimmer führte, verriet mir, dass meine Mutter sich näherte. Sie klopfte, öffnete die Tür und sagte lächelnd:

      „Jan? Oh, ich sehe, du hast Besuch.“

      „Tach“, sagte Klette artig, ging durch den Raum und reichte Mama die Hand.

      „Wir kennen uns ja schon“, sagte sie. Dann wandte sie sich an mich: „Jan, wir können gleich essen.“

      „Ich bin schon unterwegs“, sagte ich. „Klette wollte sowieso gerade gehen.“

      „Du könntest deinen Freund aber gern zum Abendbrot einladen. Ihr Jungs habt ja ständig Hunger, nicht wahr?“

      „Kann man so sagen“, bestätigte Klette. „Abendbrot finde ich gut.“

      „Hast du nicht gesagt, du hättest es eilig?“, mischte ich mich ein.

      „Nee. Eilig hab ich es nich. Für Abendbrot is immer Zeit.“

      „Das meine ich auch“, sagte Mama und fügte hinzu: “Drei sind geladen. Vier sind gekommen. Gieß Wasser zur Suppe. Heiß alle willkommen.“

      „Was gibt’s denn für Suppe?“, forschte Klette. Soviel Dreistigkeit hatte ich bislang bei Klassenkameraden noch nicht erlebt. Es verschlug mir fast die Sprache.

      „Lasst euch überraschen.“

      Wir folgten Mama die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Auf der untersten Stufen erinnerte Klette sich an seine Turnschuhe, spurtete die Treppe hinauf in mein Zimmer und sauste nach wenigen Sekunden das hölzerne Treppengeländer herunter, wobei er mich fast umgeworfen hätte. Er war ein Eindringling, der sich benahm, als wäre er hier zu Hause.

      Am gedeckten Küchentisch löffelten wir bald darauf eine dampfende Tomatensuppe, während Hector, vorsorglich auf der Terrasse festgeleint, darauf wartete, seinen Abendspaziergang zu unternehmen.

      „Ihr seid also Klassenkameraden“, bemerkte mein Vater gut gelaunt und trank aus seinem Glas von dem Dunkelbier.

      „Nich mehr lange“, sagte Klette mit vollen Backen. Es war bereits das dritte Brötchen mit Pfefferkäse, das er verspeiste.

      „Willst du die Schule wechseln?“, fragte Mama ihn.

      „Am Wochenende zieh ich nach Berlin. Zu meim Vatter.“

      „Für immer?“, entfuhr es mir.

      Er nickte kauend.

      Die schlichte Aussage löste meine Verstimmung gegen ihn augenblicklich auf. Berlin. Umzug. Weg von hier. Ein Gefühl von Erleichterung beschlich mich.

      „Hier in der Provinz hat es dir aber auch gefallen, nehme ich an“, führte mein Vater das Gespräch weiter.

      „Klar. Ich wohne hier bei meim Oppa. Der kann nich mehr so wie früher. Is aber noch gut drauf.“

      „Wie schön“, bemerkte Mama.

      Ich war noch ein wenig irritiert über ihren Satz: Wir kennen uns ja schon.

      Die wenigen Äußerungen reichten aus, um meine Eltern über seine ungewöhnlichen familiären Verhältnisse in Kenntnis zu setzen. Sie stellten keine peinlichen Fragen und beschränkten sich auf höfliches Plaudern.

      Als Klette sich aus der Kristallschüssel die zweite Portion Salat auf seinen Teller schaufelte, bemerkte ich seine sauberen Fingernägel.

      „Tja, dann genießt die letzten Ferientage mal schön, ihr zwei“, sagte mein Vater. An Mama gewandt, fragte er: „Fährst du heute noch zum Einkaufen?“

      „In einer Stunde“, antwortete sie. „Das Futter für den Hund geht zuende. Ansonsten fehlt nur Obst im Haus.“

      „Das Futter kann ich auch morgen einkaufen“, schlug ich vor.

      „Obst?“, platzte Klette dazwischen. „Äppel?“

      „Ja“, sagte Mama vergnügt. „Äpfel fehlen auch.“

      „Kann ich Ihnen besorgen. Massenhaft. Mein Oppa hat im Garten hundertzwanzig Bäume. Äppel, Zwetschgen, Birnen, Kirschen, Pfirsiche. Alles. Auch ganz billig. Fünfzig Pfennig das Pfund. Ich kanns aber auch billiger machen. Kein Problem. Wir ham alle Sorten. Kleine und große. Wir ham sogar Äppel, die sind groß wie Kinderköppe.“ Mit beiden Händen formte er die Ausmaße.

      „Ja“, entschied mein Vater, „dann kaufen wir doch mal ein paar von den Kinderköppen. Heißen die wirklich so?“

      „Weiß ich nich. Wir sagen immer Kinderköppe. Schmecken gut. Bringe ich gleich morgen vorbei. Wie viel? N Zentner?“

      „Um Gottes Willen“, wehrte Mama ab. „Ein Kilo müsste vorerst reichen.“

      „Geht klar. Könn sich drauf verlassen.“

      Mein Vater zog aus seiner Jacke, die hinter ihm über der Stuhllehne hing, die Geldbörse hervor und gab Klette fünf Mark.“

      „Vier zu viel“, stellte Klette fest.

      „Für das Pflücken und Bringen.“

      „Thank you, Sir!“

      Nach dem Essen brachte ich Klette zur Haustür.

      „Dann machs gut.“

      „Tschüs bis neulich.“

      Als er die Stufen der Außentreppe hinunter sprang, fiel mir ein: „Klette, verrate mir noch etwas!“

      Er wandte sich um. „Was denn?“

      „Warum sind deine Totengräberfingernägel plötzlich so sauber?“ Es war nicht böse gemeint.

      „Abgekaut“, erklärte er.

      „Im Ernst?“

      „Mache ich immer so.“

      „Hat es denn wenigstens geschmeckt?“

      Er überlegte kurz. Dann antwortete er: „Tomatensuppe schmeckt besser.“

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