DIE REICHE VON ITHOR. Martin Cordemann

DIE REICHE VON ITHOR - Martin Cordemann


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oder vielmehr ihr mehr als desolater Zustand. Die Gilde der Maurer war nichteinmal mehr bereit, sie als Mauer anzuerkennen, war das Bauwerk doch inzwischen so brüchig und löcherig, dass man ein volles Jahrhundert darauf verwenden könnte, es wieder instand zu setzen – oder, was die Maurergilde in Zeiten vorschlug, in denen die Auftragslage für sie spärlich war, abreißen und neu bauen. Aber für oder gegen wen? Vor gut vierzehn Jahrhunderten, als man dieses Meisterwerk der Baukunst geschaffen hatte, da hatte es die Auseinandersetzungen mit dem Seevolk im Süden gegeben, da hatte man einen Grund gehabt, einen Schutzwall zu errichten, um sich nach allen Seiten abzusichern und sich auf der einen Seite nicht um Gegner kümmern zu müssen, während man auf der anderen Seite des Reichs diejenigen bekämpfte, die über die See kamen. Doch seit zwölf Jahrhunderten bestand auch dieser Konflikt nicht mehr und im Laufe der Zeit hatte man das einst größte Heer von Vant mehr und mehr verkleinert, hatte die Stützpunkte an der Mauer geschlossen und so war sie mehr und mehr verfallen. Dereinst, so sagte man, hätte man sie aus dem Himmel sehen können – eine nicht sehr gewagte Behauptung, da es keinerlei Möglichkeit gab, den Himmel zu erklimmen und dies zu bestätigen. Und sie hatten es versucht, so sagten die Legenden. Eine Leiter zu den Sternen zu bauen, einen Turm, der sie hinauf in die Fluchtstätte der Götter bringen sollte, um deren Vernichtung zu vollenden… doch der Turm war wieder und wieder eingestürzt, selbst die begabtesten Architekten jener Ära hatten es nicht geschafft, die Kluft zu den Sternen zu überbrücken und so hatte man sich wieder bodenständigeren Aufgaben zugewandt. Sagten jedenfalls die Legenden.

      „Also“, setzte Ron noch einmal an, „verstehe ich Euch richtig, mein König? Ihr sagt, die Götter seien zurückgekehrt?“

      „Es gibt Anzeichen dafür.“

      „Und mit Anzeichen meint Ihr…“

      „Gerüchte.“

      Ron seufzte. Gerüchte waren die besten Freunde des Spions, wie man so schön sagte.

      „Verdienen diese Gerüchte wirklich unsere Aufmerksamkeit?“

      „Es ist meine Aufgabe, das Volk zu schützen, alter Freund“, meinte König Zweitgeborn und ließ seinen Blick über die Meerenge gleiten. Sie befanden sich in seiner Sommerresidenz, einer kleinen Festung in der südlichsten Region von Kelldor, zwei Tagesritte von der Hauptstadt entfernt und acht von der großen Mauer. Das Klima hier sagte ihm zu. Es war warm und vom Meer her wehte eine salzige Brise. Fast konnte man das Inselreich sehen, doch dafür lag die Festung nicht hoch genug.

      „Vor… Göttern?“

      „Sie könnten Angst und Schrecken unter meinen Untertanen verbreiten.“

      „Ich dachte, wir hätten sie alle getötet.“

      „Eben darum“, lächelte der König seinen Vertrauten an. „Nun, mein Freund, wenn sie wirklich zurückgekommen sind, meint Ihr nicht, sie könnten den Drang verspüren, sich an uns für das zu rächen, was wir ihnen angetan haben?“

      „Ihr meint…“ Schwert versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Die Legende der Götter. Die Schlacht der Götter. Die Vertreibung der Götter. Niemand in Kelldor glaubte an Götter. Denn man hatte sich von ihnen getrennt. Auf eindrucksvolle und brutale Weise. So sagte es jedenfalls die Legende. „…weil wir unsere Götter in grauer Vorzeit getötet haben…“

      „…aber nicht alle“, korrigierte ihn der König, „einige haben wir umgebracht und den Rest haben wir in den Himmel vertrieben, aus dem sie gekommen waren.“ Sagte jedenfalls die Legende.

      „Und nun sollen sie zurückgekehrt sein?“

      „Was läge da näher, als sich an uns zu rächen für das, was wir ihnen angetan haben.“ Er deutete Richtung Norden, wo sich, fern außerhalb der Sicht, die große Mauer befand. „Es sind Götter, sie haben Zeit. Sie haben uns beobachtet, haben gesehen, welche Schlachten wir geführt haben, haben uns studiert. Und haben abgewartet. Unsere Kriegskultur ist verfallen, genauso wie unser Schutzwall. Unsere Armee ist nur noch ein Bruchteil dessen, was sie einmal war. Sie haben gewartet, bis wir uns nicht mehr verteidigen können. Und diesen Augenblick nutzen Sie. Würdet Ihr es anders machen, alter Freund?“

      Da musste Ron Schwert seinem König zustimmen. Es klang vernünftig. Zumindest innerhalb eines bestimmten Rahmens.

      „Und wenn es nicht die Götter sind?“

      König Zweitgeborn sah seinen Berater fragend an.

      „Wenn jemand nur unsere vergrabene Angst vor der Rückkehr eines rachsüchtigen Gottes ausnutzen möchte? Als eine Art Kriegstaktik? Um uns damit in Angst zu versetzen, um uns geistig zu besiegen, bevor er auch nur einen Pfeil auf uns abgeschossen hat?“

      „An wen denkt Ihr dabei?“

      „Das Inselreich. Nogland. Das Seevolk. Die Nachrichtenmöwen unserer Spione berichten schon seit einiger Zeit davon, dass hoch im Norden die Ernten ausbleiben. Dass sie einen Bund mit dem Süden geschlossen haben. Und dass das Seevolk eine neue Flotte baut. Vielleicht stecken sie hinter diesen Gerüchten. Vielleicht sind sie der alte Feind, der uns den Krieg erklären will.“

      König Zweitgeborn nickte. Er war nicht der erste König von Kelldor, der als zweitgeborener den Thron bestiegen hatte. Vor ihm hatte es bereits König Brudermörder gegeben, doch das war vor dreizehnhundert Jahren in der Zeit der Seevolk-Konflikte gewesen. Niemand erinnerte sich gern daran – und an das, was er den Menschen angetan hatte, Fremden wie Einheimischen. „Ich weiß nicht, was mir mehr Sorgen bereiten würde.“

      Ron Schwert, der mit einem Glauben an getötete Götter aufgewachsen war, wusste es. Es war die konkrete Gefahr, die einem echte Sorgen bereiten sollte.

      „Ihr müsst nach Norden reisen“, ordnete der König an.

      „Um den Gerüchten auf den Grund zu gehen?“

      „Um einem bestimmten Gerücht auf den Grund zu gehen“, korrigierte die Hoheit. „Auch wenn unsere Spione sagen, es gehen Worte dieser Geschichte im Inselreich und in Nogland um, so ist da doch ein Hinweis, den ich euch bitten würde, nachzugehen. Hoch oben, im Norden, weit hinter der Baumgrenze, gibt es ein kleines Kloster. Der Abt war der spirituelle Berater meines Vaters.“

      Abt Gläubiger, ein ehrenwerter Mann, wie sich Schwert erinnerte.

      „Er hat mir eine geheime Nachricht zukommen lassen. Nur ich und Ihr wisst davon. Ein Mann hat sich vor wenigen Monaten durch den Wald geschleppt. Die Mönche fanden ihn an einem Morgen vor den Toren des Klosters vor. Bevor er in einen tiefen Schlaf fiel, aus dem er bei Senden der Nachricht noch nicht wieder erwacht war, hat er von den Göttern gesprochen.“

      Also ein Verrückter, seufzte Ron Schwert innerlich. Halb verhungert und halb erfroren im Wald verirrt. Es war wohl kaum eine Aussage, auf die man viel geben konnte – wie er vermutet hatte.

      „Er trug am Körper eine Verbrennung, wie sie den alten Schriften entspricht. Das Feuermahl der Götter.“ Der König legte den Kopf schief. „Und Ihr wisst, dass Abt Gläubiger mich nicht unterrichtet hätte, wenn er nicht wirklich besorgt wäre.“

      Schwert nickte. Vielleicht war doch mehr dran an der Sache.

      „Ihr müsst noch heute abreisen. Ich möchte, dass Ihr mit dem Abt sprecht und wenn möglich mit dem Mann.“

      „Ich werde mein Bestes versuchen“, nickte Ron und die beiden reichten sich die Hand. Er hatte eine lange Reise vor sich. Erst an der Küste entlang bis nach Sillgur, der Hauptstadt, dann weiter zur großen Mauer und dann durch Nogland bis hinauf in die Kargen Berge. Er würde Wochen unterwegs sein, Monate, bis er wieder hier war. Gerüchte schienen schneller zu reisen als Menschen.

      Sie gingen über die Zinnen der Festung, während sie die warme Brise vom Meer genossen.

      „Wie geht es Eurer Schwester?“

      „Gut, mein König.“ Seine Schwester war, wie er, als Kind eines Mühlers geboren. Er war als Ron Mühlerssn aufgewachsen, doch mit der Entscheidung für seinen Lebensweg war er zu Ron Schwert geworden. Ella Mühlerstotta, seine Schwester, hatte seinen alten Freund aus


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