Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde


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schob seine Hand durch die Luft. »Herr Erskine hat die Welt in seinen Bücherschränken. Wir Männer der Praxis möchten die Dinge sehen, nicht über sie lesen. Die Amerikaner sind ein überaus interessantes Volk. Sie sind ganz und gar vernünftig. Ich glaube, das ist ihr Kennzeichen. Jawohl, Herr Erskine, ein ganz und völlig vernünftiges Volk. Ich versichere Sie, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern.«

      »Wie gräßlich!« rief Lord Henry. »Ich kann brutale Gewalt aushalten, aber brutale Vernunft ist ganz unerträglich. Es ist unbillig, sie anzuwenden. Es heißt, den Intellekt unterdrücken.«

      »Ich verstehe Sie nicht,« sagte Sir Thomas und wurde etwas rot.

      »Ich verstehe, Lord Henry,« sagte Herr Erskine lächelnd.

      »Paradoxa sind in ihrer Art ganz gut ...,« versetzte Sir Thomas.

      »War das paradox?« fragte Herr Erskine. »Ich hielt es nicht dafür. Vielleicht. Nun, der Weg zur Wahrheit führt über Paradoxien. Um die Wahrheit zu prüfen, muß man sie seiltanzen lassen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir über sie urteilen.«

      »Mein Gott!« sagte Lady Agatha, »wie diskutiert ihr Männer! Wahrhaftig, ich bringe nie heraus, wovon ihr sprecht. O Harry, ich bin ganz böse mit dir! Warum versuchst du, Herrn Gray zu überreden, nicht mehr ins Eastend zu gehn? Ich versichere dich, er wäre dort ganz unschätzbar. Die Leute wären entzückt über sein Spiel.«

      »Ich habe den Wunsch, daß er für mich spielt,« rief Lord Henry lächelnd und blickte ans Ende des Tisches, von wo er einen strahlenden Blick zur Antwort erhielt.

      »Aber die Menschen in Whitechapel sind so unglücklich,« fuhr Lady Agatha fort.

      »Ich kann mit allem Mitgefühl haben, nur nicht mit Leiden,« sagte Lord Henry und zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nicht mitfühlen. Es ist zu häßlich, zu schauderhaft, zu quälend. Es liegt etwas schrecklich Krankhaftes in dem Mitgefühl unsrer Zeit mit dem Elend. Man sollte mit der Farbigkeit, der Schönheit, der Freude des Lebens mitfühlen. Je weniger über den Jammer des Lebens gesagt wird, um so besser.«

      »Jedoch das Eastend ist eine sehr wichtige Frage,« bemerkte Sir Thomas und schüttelte ernsthaft den Kopf.

      »Ganz richtig,« antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir machen den Versuch, es dadurch zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.«

      Der Politiker warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Welche Änderung schlagen Sie denn also vor?« fragte er.

      Lord Henry lachte. »Ich habe nicht den Wunsch, irgend etwas in England zu ändern, außer dem Wetter,« war seine Antwort. »Ich ergebe mich in philosophischer Beschaulichkeit und bin zufrieden damit. Indessen, da das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Mitgefühl Bankrott gemacht hat, möchte ich vorschlagen, wir wenden uns an die Wissenschaft, damit sie uns aufrichtet. Der Nutzen der Empfindungen ist, daß sie uns in die Irre führen, und der Nutzen der Wissenschaft ist, daß sie nicht empfindsam ist.«

      »Aber wir haben eine so ernste Verantwortung,« wagte Frau Vandeleur schüchtern einzuwerfen.

      »Furchtbar ernst,« stimmte Lady Agatha bei.

      Lord Henry blickte zu Herrn Erskine hinüber.

      »Die Menschheit nimmt sich selbst zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wenn der Höhlenmensch sich aufs Lachen verstanden hätte, wäre die Geschichte andre Wege gegangen.«

      »Sie sind fürwahr sehr tröstlich,« zwitscherte die Herzogin. »Ich habe immer ein Schuldgefühl verspürt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich interessiere mich nicht im mindesten für Eastend. In Zukunft werde ich ihr ohne Erröten in die Augen sehen können.«

      »Erröten steht den Damen sehr gut,« bemerkte Lord Henry.

      »Nur wenn man jung ist,« antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlimmes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wollte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«

      Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in jungen Tagen begangen haben, Frau Herzogin?« fragte er und blickte sie über den Tisch hin an.

      »Oh, an sehr viele, fürchte ich!« rief sie aus.

      »Dann begehen Sie sie noch einmal,« sagte er ernsthaft. »Um seine Jugend wiederzuerlangen, braucht man bloß seine Torheiten zu wiederholen.«

      »Eine reizende Theorie!« rief sie. »Ich muß sie in die Praxis umsetzen.«

      »Eine gefährliche Theorie!« kam es zwischen den zusammengepreßten Lippen Sir Thomas' hervor. Lady Agatha schüttelte den Kopf, konnte aber nichts dagegen tun, daß das Gespräch sie amüsierte. Herr Erskine hörte zu.

      »Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage sterben die meisten Menschen an einer Art schleichendem Menschenverstand und kommen, wenn es zu spät ist, dahinter, daß die einzigen Dinge, die einer nie bereut, seine Fehler sind.«

      Ein Lachen erhob sich am Tisch.

      Nun spielte er mit dem Gedanken, wie es ihm beliebte; warf ihn in die Luft und wandelte ihn um; ließ ihn verschwinden und fing ihn wieder auf; ließ ihn phantastisch funkeln und beflügelte ihn mit Paradoxien. Das Lob der Narrheit erhob sich, als er fortfuhr, zu einer Philosophie, und die Philosophie selbst wurde jung, und zum Klang der tollen Musik der Lust – bekleidet, mochte es einen bedünken, mit ihrem eingefleckten Gewande und einem Efeukranz im Haar – tanzte sie wie eine Bacchantin über die Hänge des Lebens und neckte den trägen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flohen vor ihr wie erschreckte Tiere des Waldes. Ihre weißen Füße traten die mächtige Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurnen Blasen wogend an ihren nackten Beinen hochstieg oder in rotem Schaum über die schwarzen, tropfenden, bauchigen Seiten des Fasses herablief. Es war eine glänzende Improvisation. Er spürte, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, dessen Naturell er bezaubern wollte, schien seinen Witz funkelnd zu machen und seiner Phantasie Farbe zu geben. Er war glänzend, phantasievoll, unwiderstehlich. Er entzückte seine Zuhörer aus sich selber, und lachend folgten sie seinen verführerischen Tönen. Dorian Gray verwandte den Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Banne da; ein Lächeln nach dem andern glitt über sein Gesicht, und schweres Staunen stieg in seine umdunkelten Augen.

      Endlich trat in der Livree des Jahrhunderts die Wirklichkeit ins Gemach, und zwar in Gestalt eines Bedienten, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen vorgefahren war. Sie rang die Hände in affektierter Verzweiflung.

      »Wie schade!« rief sie. »Ich muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm in so eine alberne Versammlung bei Willis gehn, wo er den Vorsitz führt. Wenn ich zu spät komme, wird er gewiß wütend, und wenn ich diesen Hut aufhabe, vertrage ich keine Szene. Er ist zu diffizil. Ein starkes Wort – und er ist ruiniert. Nein, ich muß gehn, liebe Agatha. Adieu, Lord Henry! Sie sind sehr amüsant und schrecklich unmoralisch. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen einmal bei uns zu Abend essen. Vielleicht Dienstag? Sind Sie am Dienstag frei?«

      »Für Sie würde ich jeden sitzen lassen, Frau Herzogin,« sagte Lord Henry mit einer Verbeugung.

      »Ah! das ist sehr hübsch und sehr abscheulich von Ihnen,« rief sie; »so kommen Sie also, bitte,« und sie rauschte hinaus, gefolgt von Lady Agatha und den andern Damen.

      Als Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, näherte sich ihm Herr Erskine, setzte sich neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

      »Sie reden wie ein Buch,« sagte er, »warum schreiben Sie keins?«

      »Ich lese so gern Bücher, daß ich mir nichts daraus mache, welche zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß, einen Roman würde ich gern schreiben, der so schön und so unwirklich wie ein persischer Teppich sein müßte. Aber es gibt in England kein literarisches Publikum, außer für Zeitungen, Fibeln und Nachschlagewerke. Von allen Menschen der Welt haben die Engländer den


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