Gute Welt, böse Welt. Andie Cloutier

Gute Welt, böse Welt - Andie Cloutier


Скачать книгу
an ihrer Umgebung, gingen eilig ihrer Wege. Viele von ihnen hielten Smartphones in ihren Händen oder am Ohr. Manch einer blendete selbst die Geräusche mit Hilfe von winzigen und ab und zu auch größeren Kopfhörern aus. Hin und wieder begrüßten sich Leute. Bei diesen eher wenigen Ausnahmen handelte es sich wahrscheinlich um Menschen, die sich bereits kannten. Da war wenigstens ein Mindestmaß an Höflichkeit gefragt. Ansonsten galt eine spürbar egoistische Ausstrahlung. Lächelnde Gesichter gab es selten zu sehen. Befürchteten sie, ihre Gesichter würden bei einem Lächeln zerspringen? Langsam war Rebecca den Anblick von finsteren, emotionslosen Mienen leid.

      „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

      Rebecca wandte ihren Blick vom Fenster zu der jungen Bedienung, die an ihrem Tisch stand. „Die Rechnung, bitte.“

      „Ich bringe Sie Ihnen sofort“, antwortete die junge Frau und machte sich eifrig auf den Weg zu der Kasse hinter dem Tresen.

      Rebecca mochte das Restaurant. Die Atmosphäre war angenehm und freundlich. Die Speisen waren exzellent und nicht teuer. Außerdem war die Lage, an der Straße zwischen Fußgängerzone und Parkplatz, optimal für ihre Recherche. Um die Mittagszeit war im Restaurant nie viel los. Oftmals war Rebecca der einzige Gast um diese Zeit. Sie hoffte, dass es abends besser für das Restaurant lief.

      Ein lautes Krachen, Metall traf hart auf Metall, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Unweit vom Restaurant ereignete sich ein Auffahrunfall. In unglaublich kurzer Zeit bildete sich eine Menschentraube. Die beteiligten Fahrzeuge und Personen wurden von den Zuschauern regelrecht umzingelt. Rebecca schüttelte den Kopf. Da kümmerte sich jeder stoisch um seinen eigenen Kram, bis es etwas zum Glotzen gab. Plötzlich war der eigene Kram uninteressant, man konnte mit anderen Menschen kommunizieren und man hatte Interesse an etwas anderem als sich selbst. Jetzt standen sie dort draußen und unterhielten sich angeregt. Manche machten fleißig Fotos mit ihren Smartphones. Rebecca machte sich einige Notizen bezüglich des Vorgehens auf der Straße.

      „Hier ist deine Rechnung.“

      Der kleine Zettel wurde vor Rebecca auf den Tisch gelegt. Janine, die Restaurantbesitzerin und Köchin, setzte sich wegen ihres hochschwangeren Zustands recht unbeholfen auf einen Stuhl gegenüber von Rebecca und amtete tief aus. Rebecca verstand beim besten Willen nicht warum Janine ein Kind in diese kalte Welt brachte und auch noch glücklich über diesen Umstand war, aber sie mochte Janine. „Wie geht es dir?“

      Janine seufzte. „Ich fühle mich wie ein Elefant. Nein, eher wie ein Nilpferd. Ach, keine Ahnung. Lassen wir das. Wie geht es dir? Du siehst so bescheiden aus, wie ich mich fühle.“

      Janine war direkt. Eine Eigenschaft, die Rebecca sehr sympathisch fand. „Es geht mir gut. Das sage ich heute ständig.“

      „Liegt vielleicht daran, dass du vor ein paar Stunden mit einer Waffe bedroht wurdest und mitansehen musstest, wie zwei Menschen starben. Mir würde es dann nicht gut gehen“, fand Janine. „Wieso bist du heute nicht mit deinem Hintern Zuhause geblieben?“

      Rebecca rollte mit den Augen. „Um was zu machen? Nichts, außer über gestern nachzudenken? Was alles hätte passieren können, aber nicht passiert ist?“

      „Nee, ich sehe schon. Lass das mit dem Nachdenken lieber. Du denkst sowieso schon viel zu viel nach“, meinte Janine und erhob sich mühsam. „Damit ist mein Ausflug in die schöne Welt des Speiseraums beendet. Die Küche ruft.“

      „Das Essen war super“, rief Rebecca ihr noch nach.

      „Ich weiß“, erwiderte Janine selbstbewusst, bevor sie hinter der Küchentür verschwand.

      Rebecca musste darüber lächeln. Sie packte ihr Notebook ein, zog ihren Mantel über, bezahlte die Rechnung bei der jungen Angestellten und machte sie auf den kurzen Fußweg zu ihrer Praxis.

      Natascha erwartete sie bereits ungeduldig. „Du hattest Besuch.“

      Rebecca sah sie erstaunt an. „Besuch? Meinst du einen Patienten?“

      „Nein. Ein Kommissar war hier und wollte dich sprechen“, erzählte Natascha. „Ein gewisser Leon Zimmermann.“ Irgendwie brachte sie es fertig den Namen schnurrend auszusprechen.

      Das irritierte Rebecca. „Vermutlich hat er weitere Fragen bezüglich gestern abend.“ Sie ging in ihr Sprechzimmer und legte ihren Mantel ab.

      „Fragen wegen gestern Abend, das wäre wirklich zu schade“, fand Natascha. „Das ist ja schon ein Schnuckelchen.“

      „Mach Feierabend, Natascha“, antwortete Rebecca. Sie holte ihren Geldbeutel hervor. Hinter dem Foto, auf dem sie gemeinsam mit ihrer Mutter in die Kamera lächelte, hatte sie etwas verstaut. Jetzt zog sie es aus dem Versteck und betrachtete die kleine Karte nachdenklich.

      „Übrigens, die Magersucht hat abgesagt.“ Natascha schaute kurz ins Zimmer. „Ich mach dann jetzt Mittagspause.“

      „Unsere Patienten haben Namen“, rügte Rebecca sie noch. Aber Natascha war schon zur Tür hinaus.

      Rebecca sah die Karte in ihrer Hand fragend an. Aus welchem Grund war er hier gewesen? Gab es noch Fragen wegen gestern? Aber wenn es sich um etwas Wichtiges handeln sollte, meldete er sich doch bestimmt wieder. Allerdings könnte sie ihn auch kurz anrufen und ihm sagen, dass es ihr gut ging. So würde sie vielleicht erfahren, was es mit seinem Besuch auf sich hatte. Und es beanspruchte nicht viel Zeit. Mit dem Smartphone in der einen und der Karte in der anderen Hand saß sie eine Weile lang unentschlossen an ihrem Schreibtisch.

      Sophia stieg in den Bus, bezahlte ihr Ticket bei dem Fahrer und suchte sich einen Sitzplatz. Davon gab es in dem Linienbus reichlich. Sie hatte sich gegen ein Taxi und für den Bus entschieden. Ihr stand nicht der Sinn nach einem geschwätzigen Taxifahrer oder der Einsamkeit eines einzelnen Passagiers. Eine Busfahrt inmitten vieler Menschen erschien ihr angenehmer. Vielleicht fühlte sie sich dann ausnahmsweise mal nicht vollkommen allein. Leider setzte genau das Gegenteil ein. Kinder alberten miteinander herum, freuten sich darüber, dass die Schule für heute beendet war und sie nun ihre Freizeit genießen konnten. Eine junge Mutter sah voller Liebe in einen Kinderwagen hinein. Ein Rentnerehepaar tuschelte miteinander.

      Sophia fühlte sich einsamer als je zuvor. Vor Jahren hatte sie an eine glückliche Zukunft mit Eric geglaubt. Sogar davon geträumt wie es wäre mit ihm alt zu werden. Wie sich Dinge ändern konnten. Was sie zum zweiten Grund brachte, weshalb eine Scheidung unmöglich war. Ein wohlbehütetes Geheimnis von dem sie nicht einmal Dr. Brandt erzählt hatte. Erics Eltern waren nicht mit ihr einverstanden gewesen. Sie wünschten sich eine standesgemäße Frau für ihren Sohn. Kein junges Mädchen aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Doch Eric wollte sie und keine andere und Eric bekam immer was er wollte. Das hatte zu einem bösen Streit mit seinen Eltern geführt. Sogar von Enterbung war die Rede gewesen. Zwei Monate vor der Hochzeit starben Erics Eltern bei einem Autounfall. Der Unfallverursacher wurde nie gefasst. Es war eine schwere Zeit für Eric gewesen. Trotz des Streits waren es schließlich seine Eltern und sie war verständnisvoll und hatte ihn unterstützt, so gut es ihr möglich war. Sie hatte ihm sogar angeboten die Hochzeit zu verschieben. Wer wollte schon so kurz nach dem Tod der Eltern eine Hochzeit feiern? Aber davon wollte Eric nichts wissen und hielt an dem angesetzten Termin fest. Sie waren gleichermaßen geschockt, als sie erfuhren, dass Eric doch der alleinige Erbe war. Sophia hatte ihn für seine Stärke bewundert. Was er in der kurzen Zeit alles durchmachen musste. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte! Wenige Wochen nach der Hochzeit veränderte sich alles. Weil sie sich seit Tagen unwohl fühlte, war sie nachmittags beim Arzt gewesen. Sie konnte Erics Heimkehr kaum erwarten, wollte ihm die Neuigkeiten vom Arzt unbedingt mitteilen. Gab es denn eine schönere Nachricht, als die ein Kind zu erwarten? Ein Paar, das sich liebt und ein Kind erwartet? Bei Erics Ankunft stürmte sie zu seinem Arbeitszimmer. Die Tür war geschlossen, aber sie hörte Stimmen im Zimmer. Eric war nicht allein. Er stritt sich mit einem anderen Mann. Jemandem, der eine Menge Geld von ihm verlangte, um weiterhin zu Schweigen. Sie hörte unheimliche Geräusche, die Erinnerung daran versetzte sie heute noch in Grauen. Schnell machte sie kehrt, ging die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Starr vor Schreck saß sie eine Weile lang auf dem Bett. Sie holte tief Luft und ging zum Fenster. Damals hatte sie gehofft, dass


Скачать книгу