Im Schatten der Anderen. Philipp T. Hayne
auf einmal auf.
Sein Blick wanderte nach rechts und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Faust zitterte und die Zweige des Blumenstraußes brachen entzwei.
Dort stand das Haus der Familie Lange. Der Sohn, Adrian, war ein ehemaliger Klassenkamerad von Ben gewesen. Als Ben das Haus von Adrian und seinen Eltern sah, erinnerte er sich wieder genau, wie dieser ganze Alptraum begonnen hatte. Dicke, pochende Adern zeichneten sich an seiner Stirn ab.
Star und leblos blickte er die Straße hinunter – es lag nun fünf Jahre zurück...
Kapitel 2
Die meisten Leute erinnern sich gerne zurück an ihre Schulzeit. Ben hörte immer von allen, wie einfach das Leben damals doch noch war und dass man sich um nichts Sorgen machen musste. Jedes Mal dachte Ben, dass das alles doch nur totaler Schwachsinn sei.
Mitten auf der Straße stehend versank er in seinen Erinnerungen und dachte zurück an die Zeit, in der er auf die Realschule seiner Stadt gekommen war. Er war damals elf Jahre alt gewesen, nervös und unsicher. Der erste Tag war ganz neu für alle und diejenigen, die sich bereits kannten, stellten sich in kleinen Rudeln auf und machten es einem nicht einfach sich dazu zu stellen.
Nach der Grundschule gingen die meisten seiner Freunde auf andere Schulen. Doch als er die Gänge der Realschule langlief und den gelben Fußabdrücken auf dem Boden folgte, die ihn zu seinem Klassenzimmer führten, hatte Ben das Gefühl, dass die anderen neuen Schüler sich alle schon kannten. Und trotzdem brauchte es nicht lange, bis Ben seinen ersten Freund fand.
Als er in die Klasse stolzierte, schaute er sich um, um zu sehen, ob er vielleicht irgendjemanden aus seiner neuen Klasse kannte. Rechts vorne am Fenster saß ein Mädchen, das er von seiner ehemaligen Schule kannte.
Ben zögerte und wusste nicht, ob er sich zu ihr setzten sollte. Er hatte damals nicht so viel mit ihr zu tun gehabt. Außerdem dachte er sich, dass es blöd rüber käme, sich an seinem ersten Tag direkt neben ein Mädchen zu setzen. Dann sah Ben einen Jungen in der Mitte des Raumes sitzen. Der Junge las in einem Comicheft der Avengers. Sofort war er Ben sympathisch, mochte er Comics doch selber gerne.
»Sitzt hier vielleicht schon jemand oder kann ich mich hier hinsetzen?«, fragte Ben schüchtern, der annahm, dass der Junge sowieso nein sagen würde.
»Klar, setz' dich ruhig!«, entgegnete der Junge und grinste ihn an.
»Ich bin übrigens Noah, und du?«
Ben setzte sich und hielt Noah seine Hand hin, der sie bereitwillig schüttelte.
»Ich bin Ben«. Noah, der etwas kleine Junge mit den dunkelblonden Haaren, machte immer gerne Späße, die nicht bei jedem Anklang fanden. Ben konnte allerdings immer darüber lachen und freute sich jedes Mal, wenn Noah wieder etwas Neues eingefallen war.
Wenn Ben mit Noah lachte, dann war das kein Lachen aus Höflichkeit, Mitleid oder einfach, um dazu zu gehören. Es war ein Lachen, das wehtat und tief im Bauch anfing – ein ehrliches Lachen. Jeder einzelne Muskel zuckte krampfhaft und verursachte einen schmerzhaften Muskelkater. Das waren die Erinnerungen, die Ben geblieben waren. Jene, an die er sich oft versuchte zu erinnern in späteren Jahren.
Ben wachte aus seinem Tagtraum auf und bemerkte, dass er, in Gedanken versunken, fast den falschen Weg genommen hätte. Er bog die Straße nach links ab und folgte einem kurzen Waldweg. Die dichten Baumkronen ließen nur vereinzelt das warme Sonnenlicht hindurch.
Ben dachte daran, wie froh er zu jener Zeit am Anfang seiner Schulzeit noch war. Voller Zorn drückte er den Blumenstrauß seiner Mutter immer fester zusammen – so fest, dass seine Hand anfing zu zittern. Doch als ihm das bewusst wurde, lockerte Ben seinen Griff und fiel zurück in seine Gedanken.
Er erinnerte sich noch genau daran, wie sie beide von dem Sportlehrer zur Schulmannschaft berufen worden waren. Für Ben war das eines der schönsten Erlebnisse seiner Schulzeit gewesen. Doch ein fader Beigeschmack blieb ihm immer bei dem Gedanken an diese vergangene Zeit.
Die beiden Jungen, die ein Jahr vorher schon angefangen hatten in den gleichen Fußballverein zu wechseln, hatten nun auch für ihre Schule gespielt. Ohne Zweifel war wohl ein Grund für die Freude, dass sie schulfrei bekamen, wenn Spiele anstanden. Als Ben an jenem Tag nach Hause kam, erzählte er es seinem alten Herrn. Sein Vater, ein grimmig dreinschauender Mann mit Schnauzbart und vollem dunklen Haar, das an den Seiten schon grau wurde, saß in seinem abgetragenen Sessel und las Zeitung. Sein Vater hatte ihn nur kurz angeschaut.
»Ah, gut.«, entgegnete ihm sein Vater, ohne dabei zu zucken.
Ben starrte seinen Vater weiter an, in der Hoffnung wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Wie, das war's!? Immerhin ist die Mannschaft jedes Mal bei Turnieren oben mit dabei.«, protestierte Ben verärgert.
»Hör mal zu, Junge. Das ist nur die Schulmannschaft. Da geht es weder um viel noch wirst du da viel lernen bei diesem alten, ausrangierten Sportlehrer. Ich freue mich, na klar, aber du kannst jetzt keine Luftsprünge von mir erwarten.«, machte sein Vater deutlich, der nur leicht über den Rand seiner Zeitung zu Ben schaute.
Ben hatte gewusst, dass sein Vater nicht gerade ein Fan von Fußball war; vielmehr liebte er das Sportschießen.
»Danke, finde ich echt super von dir.«
Ben war zwar klar, dass die Schulmannschaft nicht das große Los war, doch immerhin war er einer von wenigen, die von der ganzen Schule ausgesucht worden waren. Das, was sein Vater an Zuneigung versäumte, versuchte seine Mutter wieder aufzufangen. Aber durch die Ansprache seines Vaters schien jetzt jedes Kompliment nur noch lächerlich und überzogen zu sein. Noah jedoch konnte Ben immer wieder aufrichten. Beim ersten Spiel, das sie für die Schulmannschaft spielten, ließ Noah nicht locker und versuchte Ben aufzumuntern.
»Heute zeigen wir deinem Alten mal, was wir hier leisten können; dann ändert der seine Meinung ganz schnell. Und wenn nicht, dann rasiere ich ihm seinen Pornobalken unter der Nase weg, alles klar!?«
Ben versuchte sich vorzustellen, wie sein Vater wohl ohne Schnauzbart aussehen würde. Als er das Bild vor Augen hatte, prustete er das Wasser aus, das er vorher getrunken hatte.
»Oh, bitte nicht! Wenn mein Vater nicht mehr wie Magnum aussieht, könnten die Leute ihn noch für voll nehmen.«, antworte Ben hustend.
Durch Noah hörte Ben auf den Kopf hängen zu lassen und rappelte sich auf. Er wischte sich das Wasser von seinem Kinn und klopfte Noah auf die Schulter. Das Spiel ging jeden Moment los und beide rannten zum Trainer, um die letzten Anweisungen entgegen zu nehmen.
Adrian, der auch in der Schulmannschaft spielte, stand ihnen gegenüber. Die drei Jungen mochten sich nicht wirklich und das versuchte Adrian nicht gerade zu verbergen. Adrian hatte ständig den Drang Ben und Noah aus dem Team zu drängen und wenn er schlecht über sie redete, konnte man noch sagen, dass er nett zu ihnen war. Ben war an einem Punkt angekommen, an dem er nicht mehr wusste, was er tun sollte, damit Adrian ihn endlich in Ruhe ließ. Noah jedoch schwankte immer zwischen totaler Ignoranz und gegenseitiger Provokation hin und her. Ben versuchte Noah abzulenken und wechselte immer das Thema, auf das sich Noah auch recht schnell einließ. Beiden war klar, dass es nicht angenehm sein würde mit Adrian in einem Team zu spielen. Dann rannten alle auf das Spielfeld und warteten auf den Pfiff des Schiedsrichters. Ben war dank Noah hochmotiviert sein Bestes zu geben. Der Pfiff ertönte und das Spiel ging los.
Es war ein sehr umkämpftes Spiel und die Jungen waren nicht gerade zimperlich dabei die Zweikämpfe zu gewinnen. Jedes Mal, wenn sich Noah den Ball erkämpfte und zu Ben spielte, schrie Adrian wie besessen auf ihn ein. Ben versuchte ihn zu ignorieren, so wie es Noah ihm immer riet.
Als Ben kurz seinen Blick über die Zuschauerränge schweifen ließ, sah er ein Mädchen – Sophie Bellier. Sie waren zusammen in einer Klasse, saßen in den Stunden immer nah beieinander, und doch hatten sie am Tag vor dem Spiel zum ersten Mal richtig miteinander geredet.
Ben mochte sie und obwohl er nicht genau wusste, was er denken sollte,