Das Dorf Band 15: Der rätselhafte Fall. Karl Olsberg
gewaltigen Flügel in die Luft.
Alle Endermen sehen Seine Singularität erwartungsvoll an. Ein gewaltiges Raunen geht durch die Menge, als er ihnen verkündet, was der Heilige Rat beschlossen hat.
2. Ärger
„Primo!“, erklingt Golinas energische Stimme. „Liegst du etwa immer noch im Bett? Steh gefälligst auf und hilf mir mit dem Frühstück! Und dann bringst du Nano zu Birta!“
Primo richtet sich im Bett auf und reibt sich die Augen. Er hat unruhig geschlafen. Düstere Bilder eines Alptraums ziehen durch seinen Kopf wie Nebelschwaden. Er war im Ende, jenem düsteren Ort, mit dem er so viele unangenehme Erinnerungen verbindet. Die Endermen waren alle versammelt und diskutierten lange in ihrer komplizierten, umständlichen Sprache. Schließlich hielten sie die Kreisbahn an, in der Primos Erzfeind Artrax gefangen gehalten wurde, so dass dieser entkommen konnte. Primo schaudert bei der Erinnerung an die violett leuchtenden Augen des bösen Endermans, an sein hämisches, heiseres Lachen nach seiner Befreiung.
Er streckt sich. Gut, dass es nur ein Alptraum war und nicht die Wirklichkeit.
„Primo! Kommst du jetzt endlich, oder muss ich schon wieder alles alleine machen?“
„Ich komme sofort“, ruft er und legt rasch seine Diamantrüstung an.
Sein letztes Abenteuer mit dem unheimlichen Fremden, der eines Tages in der Nähe des Dorfs gesehen wurde, liegt schon eine ganze Weile zurück. Seitdem war es friedlich im Dorf, und seit die Fremden wieder in ihre mysteriöse Kugelwelt zurückgekehrt sind und die Trümmer von Leos Haus von der Wiese neben der Schlucht entfernt wurden, geht das Leben wieder seinen geregelten Gang. Früher hätte Primo das langweilig gefunden und sich nach etwas mehr Aufregung gesehnt. Doch mittlerweile hat er zusammen mit seinem besten Freund Kolle schon so viele Abenteuer erlebt, war schon an so vielen geheimnisvollen, unheimlichen und gefährlichen Orten und hat das Dorf so oft vor der Zerstörung bewahren müssen, dass es für viele Dorfbewohnerleben reicht. Ein wenig Ruhe tut ihm gut.
„Da bist du ja endlich!“, schimpft Golina. „Nano ist schon mit dem Frühstück fertig. Bring ihn bitte zu Birta. Und nimm Paul mit raus. Pass aber auf, dass er nicht wieder Unsinn anstellt!“
„Ja, Golina. Komm, Nano!“
„Ich will aber nicht zu der doofen Birta! Die ist immer so streng und gemein, und dann bestraft sie mich, obwohl ich gar nichts gemacht habe, nur weil Maffi wieder gepetzt hat!“
„Du musst nun mal was lernen, mein Sohn.“
„Muss ich gar nicht. Und außerdem lernen wir da nur dummes Zeug, wie Rechnen und Lesen und Schreiben und solchen Quatsch. Ich würde viel lieber Kämpfen lernen, damit ich ein Dorfbeschützer werden kann, so wie du, Papa.“
„Schluss jetzt!“, ruft Golina. „Du gehst zu Birta in den Unterricht, und damit basta. Und wehe, du bekommst wieder Ärger!“
„Och, Menno!“, mault Nano, doch er folgt Primo aus dem Haus.
Als sie die Dorfstraße entlang gehen, bellt Paul plötzlich und rennt hinter einem Huhn her, das neben der Kirche im Boden scharrte und nun laut gackernd vor ihm flieht. Genau in diesem Moment kommt der Priester Magolus aus der Kirche, das Heilige Buch in der Hand. Er erschrickt, als der kläffende Wolf ihn fast umrennt, und das Buch rutscht ihm aus der Hand und fällt in den Dreck.
„Primo!“, schimpft er. „Kannst du nicht besser auf deinen Wolf aufpassen? Das ist mir ein schöner Dorfbeschützer, der nicht mal mit seinem eigenen Haustier fertig wird!“
„Entschuldige, Magolus“, ruft Primo. „Paul, hierher! Sofort!“
Doch der Wolf hört nicht auf ihn. Er bleibt vor Birtas Haus sitzen und kläfft. Das Huhn hat sich irgendwie aufs Dach des Hauses geflüchtet.
Birta kommt heraus.
„Was ist denn hier los?“, keift sie. „Was soll dieses Gekläffe? Und wieso kommst du schon wieder zu spät, Nano? Maffi ist schon längst da!“
„Entschuldige, Birta“, sagt Primo, der das Gefühl hat, dass sich heute die ganze Welt gegen ihn verschworen hat. „Es ist meine Schuld. Paul ist ausgerissen und hat dieses Huhn verfolgt, das jetzt auf deinem Dach sitzt.“
„Ein Huhn? Auf meinem Dach? Wie kommt es denn dahin?“
„Weiß ich auch nicht. Es sieht so aus, als wäre es dort hinaufgeflogen.“
„Unsinn!“, widerspricht Birta. „Hühner können doch nicht auf Hausdächer fliegen!“
„Vielleicht ja doch. Vielleicht fliegen sie nicht so gern, sondern nur im Notfall, wenn zum Beispiel ein Wolf hinter ihnen herrennt.“
„Quatsch! Ich bin die Lehrerin, und wenn ich sage, Hühner können nicht fliegen, dann können sie nicht fliegen, und damit basta!“
„Und wie ist es dann auf dein Dach gekommen?“
„Ich habe jetzt keine Zeit, hier herum zu diskutieren. Der Unterricht hätte schon längst anfangen sollen. Komm, Nano!“
„Bis später, Nano. Tschüss, Birta!“
Ohne den Abschiedsgruß zu erwidern, packt Birta den unglücklichen Nano und zerrt ihn in ihr Haus.
„Komm, Paul!“, ruft Primo. Doch der Wolf rührt sich nicht von der Stelle, sondern kläfft weiter das Huhn an, das immer noch auf dem Dach sitzt.
In diesem Moment kommt Asimov die Dorfstraße entlang gestapft. Die Katze Mina sitzt wie immer eingerollt auf dem Kopf des Golems, so dass es aussieht, als trüge er eine pelzige Mütze.
„Asimov!“, ruft Primo. „Du kommst mir gerade recht.“
„Das habe ich befürchtet“, erwidert der Golem. „Was ist denn nun schon wieder?“
„Du könntest mir helfen, Paul wieder nach Hause zu locken. Er sitzt da und kläfft das Huhn auf dem Dach an.“
„Das sehe ich. Aber wieso hockt da ein Huhn auf dem Dach?“
„Paul hat es gejagt, und da muss es dort hinaufgeflogen sein.“
„Hm“, macht Asimov. „Ich wollt, ich wär auch ein Huhn.“
„Wieso das denn?“
„Dann hätt ich nicht viel zu tun. Ich legte jeden Tag ein Ei und Sonntags auch mal zwei. Und außerdem könnte ich dann auch auf Dächer fliegen, wo mich niemand mehr nerven kann.“
„Sei nicht albern!“, meint Primo.
„Ha! Das musst gerade du sagen!“
„Also, hilfst du mir jetzt oder nicht?“
„Na schön, was soll ich tun?“
„Du musst einfach nur zurück zur Schmiede gehen.“ Primo läuft zu seinem Wolf und sagt: „Guck mal, Paul, da ist Mina!“
Als der Wolf seine Erzfeindin auf Asimovs Kopf erblickt, stürmt er los und springt laut bellend an dem Golem hoch. Mina faucht und sträubt ihr Fell, rührt sich aber nicht von der Stelle. Sie weiß, dass sie dort oben sicher ist.
„Na toll!“, ruft Asimov. „Ganz toll! Das hab ich also nun davon, dass ich frei bin und keinerlei Anweisungen mehr befolgen muss. Ich hätte im Wüstendorf bleiben sollen. Mit Hunderteinundachtzig konnte man gute Gespräche führen. Aber mir war natürlich klar, dass ihr euch wieder in Schwierigkeiten bringen würdet, wenn ich nicht hier bin und auf euch aufpasse.“ Er schüttelt den Kopf über sich selbst. „Ich bin einfach viel zu gutmütig!“
Grummelnd marschiert er zur Schmiede, gefolgt von dem kläffenden Wolf und Primo.
„Was machst du denn wieder für einen Lärm?“, beschwert sich Golina, als sie das Haus erreichen.
„Ich?“, fragt Primo.
„Kannst du denn nicht einmal dafür sorgen, dass sich Paul vernünftig benimmt?“ Sie wendet sich an den