Unvergessene Jahre. Helmut Lauschke

Unvergessene Jahre - Helmut Lauschke


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eine Tasse Kaffee zu trinken und ein belegtes Brötchen zu essen, das für den Mittag reichen sollte. Frau Pollack begrüßte ihn freundlich mit den Worten: “Eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit frischer Leberwurst”. Alfred Lehmann nickte und hängte den tropfenden Regenmantel und die Baskenmütze so an den Ständer, dass der Mantel auf einen ausgelegten Scheuerlappen tropfte. Er nahm am kleinen Fenstertisch mit der runden Tischplatte Platz und wartete auf das Bestellte, während er aus dem Fenster sah und den Verkehr auf der nassen Straße mit den quäkenden und qualmenden Trabis und Zweitakt-Motorrädern und die vorübergehenden Fußgänger auf den mit Pfützen überzogenen Gehsteigen verfolgte und in Gedanken bei dem Gespräch mit Otto Schulte war. Frau Pollack setzte die Tasse Kaffee mit Teelöffel und zwei Zuckerwürfeln auf der Untertasse und ein Schälchen mit Trockenmilch und den Teller mit dem Leberwurstbrötchen auf die runde Tischplatte und wünschte dem Gast einen guten Appetit. Da kein weiterer Kunde im Geschäft war, kam es zu einem Gespräch, in dem Frau Pollack fragte, ob Alfred Lehmann auch davon gehört habe, dass viele DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei die Republik verließen, um in den Westen zu kommen. Einige Hundert hielten sich auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag auf und weigerten sich, in die DDR zurückzukehren. Sie würden von der Botschaft mit Essen versorgt. Sogar Zelte seien von der Botschaft aufgestellt worden. Alfred Lehmann schaute auf das Leberwurstbrötchen und hatte das Bild des Untergangs der Republik vor dem geistigen Auge, als er leise sagte, dass er auch davon gehört habe und sich nicht vorstellen könne, wie es mit der Republik weitergehen soll. Darauf sagte Frau Pollack, dass sie seit Jahren das ungute Gefühl hätte, dass der Sozialismus durch das Schmarotzertum der Funktionärsklasse bald am Ende sei. “So etwas kann doch auf Dauer nicht gutgehen, wie die sich da oben in Berlin benehmen und alles unter den Nagel reißen und wie die Maden im Speck mit westlichem Luxus leben. So etwas ist doch nicht in Ordnung. Das hat doch mit Sozialismus nichts mehr zu tun”, erregte sich Frau Pollack.

      Ein Kunde betrat die Bäckerei, und Frau Pollack ging zur Theke zurück. Alfred Lehmann aß das Brötchen mit dem Appetit des leeren Magens und sah dabei aus dem Fenster. Nach dem Gespräch am kleinen runden Tisch betrachtete er die vorübergehenden Menschen im Nieseldauerregen mit ‘anderen’ Augen und erkannte in ihren Gesichtern die Zeichen der Unzufriedenheit, die ihm so deutlich vorher nicht aufgefallen waren. Das mit dem weniger Aufgefallensein hatte auch mit seinen Rückenschmerzen zu tun, dass er in den letzten Wochen und Monaten seltener einen Gang durch die Stadt unternommen und sich mehr in seiner Dachwohnung aufgehalten hatte mit dem Blick durch das Dachfenster auf die Straße oder Zeitung lesend, wobei sich die Zeitung auf das ‘Neues Deutschland’ beschränkte, in der von solchen unzufriedenen Gesichtern in keinem der Artikel die Rede war. Im Gegenteil, die Leitartikel auf den Frontseiten und die anderen Artikel auf den folgenden Seiten priesen in unverminderter Großherrlichkeit die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus und die Unterstützung afrikanischer Länder im Befreiungskampf gegen Apartheid und Kolonialismus. Schwarze Kinder aus Mosambik und Namibia wurden in der DDR aufgenommen, wo sie in Stassfurt zur Schule gehen und in Heimen untergebracht und großzügig versorgt werden. Afrikaner studieren an den Universitäten der DDR. Doch die Gesichter der Bürger der DDR verrieten, dass es mit der Praxis des Sozialismus nicht stimmte. Die Zeitbombe, von der Otto Schulte sprach, tickte. Es war eine Frage der Zeit, dass das missbrauchte Volk auf die Straße gehen und gegen die Beton- und Schröpfköpfe eines ausgehöhlten, maroden und verkalkten Systems protestieren würde. Die Werte einer guten Ideologie waren verbraucht. Die Theorie des Sozialismus mit der gerechten Güterverteilung scheiterte an der orthodoxen Engstirnigkeit, dem Lügenmaul und der rücksichtslosen Verschwendungssucht der Funktionäre. Sie sind die Ausbeuter am Volk und die Verräter an einer guten Sache mit einer guten Idee, die für die Verrottung und den Untergang des Sozialismus verantwortlich zu machen sind.

      Alfred Lehmann zahlte Kaffee und Brötchen, zog den grauen Regenmantel an und setzte die abgegriffene schwarze Baskenmütze auf und verließ die Bäckerei Pollack. Er setzte den Spaziergang in den frisch besohlten Schuhen im anhaltendem Nieselregen fort und ging einige Male um den ‘Platz der Revolution’. Was ihm bei diesem ‘revolutionären’ Rundgang auffiel, was ihm mit weniger Rückenschmerzen vor Wochen so nicht aufgefallen war, waren die kleinen Menschengruppen an den Ecken des Platzes, die unter aufgespannten Schirmen beieinander standen und miteinander sprachen. Dass Menschen der Stadt das bei diesem unwirtlichen Wetter taten, sagte ihm, dass sie etwas Wichtiges zu hören und zu sagen hatten, was über die Schönwettergespräche hinausging. Innerlich fühlte sich Alfred Lehmann erschrocken, dass er diese Art des Zusammenstehns vorher nicht beachtet oder nicht gesehen hatte. Die Grüppchen standen noch zusammen, als er das vierte, das fünfte und das sechste Mal um den ‘Platz der Revolution’ mit grauem Regenmantel und schwarzer Baskenmütze spazierte und sich in Abständen das Nass mit bloßer Hand vom Gesicht wischte. Gesichter von Bekannten konnte er in den Grüppchen nicht ausmachen, weil die Menschen, es waren Männer und Frauen, ihm entweder den Rücken zukehrten oder die Gesichter unter den Schirmen verbargen. Das vage Gefühl wurde ihm zur ‘nassen’ Gewissheit, dass es mit dem Sozialismus bergab geht, auch wenn Menschen mit ihm über die sozialistische Talfahrt bislang nicht offen gesprochen hatten, wenn er von Frau Pollack und Otto Schulte einmal absah. Er verstand das Gruppenstehen der Menschen auf dem ‘Platz der Revolution’ als den Beginn des Aufbegehrens in Form einer friedlichen Demonstration und stellte sich vor, wie die Gruppen von Woche zu Woche mehr und größer wurden und die Bürger der Republik anfangen würden, mit Kerzen und Spruchbändern schweigend durch die Stadt zu ziehen. Doch erstaunlich war die Tatsache, dass die Bürger die Angst vor der permanenten Überwachung durch die allgegenwärtige Stasi ablegten, um ihrem Unmut und ihrer Verbitterung über die desolaten Verhältnisse eines abgewirtschafteten Sozialismus Ausdruck zu verleihen.

      Alfred Lehmann ging noch das siebte Mal mit den schicksalsschweren Gedanken des Zusammenbruchs des Sozialismus und der bürgerlichen Revolution um den ‘Platz der Revolution’ und bog in die Rosa-Luxemburg-Straße ab, um bei Frau Speer, der nicht mehr jungen blassgesichtigen Sprechstundenhilfe von Dr. Brettschneider das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. Es war früher Nachmittag, als er die Baskenmütze vom Kopf zog und mehrere Male gegen den nassen Regenmantel schlug, die Praxistür öffnete und hinter sich schloss und die wenigen Schritte bis zum schmalen Tisch machte, hinter dem Frau Speer saß und wie am Morgen in der Kladde vor- und zurückblätterte. Sie sah mit ihren fad-blauen Augen hoch: “Sie kommen aber früh. Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Herr Doktor kam erst spät aus der Poliklinik zurück und muss das Rezept noch schreiben.” Alfred Lehmann: “Dann fragen Sie den Arzt, ob nicht neue Röntgenbilder in Anbetracht der zunehmenden Rückenschmerzen angebracht wären und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Er nahm im Wartezimmer, in dem er der einzige wartende Patient war, Platz und machte sich seine Gedanken über den Morgen und die Republik. Es dauerte länger, als Frau Speer aus dem Sprechzimmer zurückkam und sich hinter ihren schmalen Tisch setzte und Alfred Lehmann aus dem Wartezimmer rief: “Hier ist ihr Rezept. Ich habe Herrn Doktor ihre Fragen gestellt. Er sagte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da keine Wunder zu erwarten sind. In punkto Spezialist sagte Herr Doktor, dass ihrer Wirbelsäule nicht mehr zu helfen sei als die Schmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle zu bringen. Sie werden verstehen, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.” Sie überreichte das Rezept mit ausdruckslosem Gesicht, und Alfred Lehmann verließ die Praxis enttäuscht, dass der Arzt bei leerem Wartezimmer sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, ihn und seinen Rücken zu untersuchen.

      Er schloss die Praxistür von draußen, setzte sich die abgegriffene schwarze Baskenmütze auf den Kopf und ging zur nächsten Apotheke in der Weidemann-Straße, einer Nebenstraße der Rosa Luxemburg-Straße. Apotheker Traunicht, ein untersetzter Herr jenseits der Mitte der Lebensjahre mit blassem Gesicht und schütterem grauen Haar nahm das Rezept entgegen, ging zu den Regalen und füllte einen kleinen Plastikbehälter mit Tabletten, die er auf einem Tablett vorher abgezählt hatte. “Das sind ihre Tabletten”, sagte Herr Traunicht, als er den halb gefüllten Plastikbehälter auf die Theke stellte und den herabgesetzten Rentnerbetrag verlangte. Alfred Lehmann zahlte den Betrag, und Herr Traunicht gab das Wechselgeld heraus und fragte, wie es sich mit den Rückenschmerzen verhalte. “Die werden von Monat zu Monat stärker”, antwortete Alfred Lehmann. “Dann soll Sie ihr Arzt zu einem Spezialisten überweisen”, sagte Herr Traunicht. “Das habe ich die Sprechstundenhilfe auch gefragt, die die


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