DIE EISERNE FERSE. Jack London
als hätten Sie auf Befehl Ihrer Arbeitgeber, die ihrerseits wieder den Befehlen der Unternehmungen gehorchen, die Wahrheit zu verdrehen.«
»Damit habe ich nichts zu tun.« Einen Augenblick schien ihm die Sache unbehaglich zu werden, dann aber sah er einen Ausweg, und seine Miene erhellte sich. »Und selbst schreibe ich nichts Unwahres. Ich halte mein Gewissen rein. Aber natürlich gibt es bei meinem Tagewerk viele Widerstände. Das gehört nun einmal dazu, sehen Sie«, schloss er naiv.
»Aber Sie hoffen doch, eines Tages am Redaktionstisch zu sitzen und die Politik zu leiten.«
»Bis dahin bin ich abgehärtet«, lautete seine Erwiderung.
»Da Sie heute noch nicht abgehärtet sind, bitte ich Sie, mir Ihre aufrichtige Meinung über die allgemeine Redaktionspolitik zu sagen.«
»Ich denke nicht darüber nach«, antwortete er schnell. »Man kann es sich nicht leisten, über die Stränge zu schlagen, wenn man als Journalist Erfolg haben will. So viel habe ich jedenfalls schon gelernt.«
Er nickte weise mit seinem jungen Kopfe.
»Aber das Recht?«, beharrte ich.
»Sie verstehen das Spiel nicht. Alles ist natürlich recht, wenn es auf die rechte Weise gebraucht wird. Sehen Sie das nicht ein?«
»Köstlich unklar«, murmelte ich; aber das Herz schmerzte mir um seine Jugend, und ich fühlte, dass ich es herausschreien oder in Tränen ausbrechen musste.
Ich fing an, die äußere Schale der Gesellschaft, in der ich lebte, zu durchschauen und die schreckliche Wirklichkeit dahinter zu entdecken. Es schien eine geheime Verschwörung gegen Jackson zu bestehen, und mir tat der jammernde Anwalt leid, der seinen Prozess so unrühmlich geführt hatte. Und diese heimliche Verschwörung wuchs beständig. Sie richtete sich nicht gegen Jackson allein, sondern gegen jeden Arbeiter, der in der Fabrik zum Krüppel wurde. Und wenn gegen jeden Arbeiter in den Spinnereien, warum nicht auch gegen jeden in jeder ändern Fabrik? Wirklich, war es nicht überall so, in der ganzen Industrie?
Verhielt es sich aber so, dann war die Gesellschaft eine Lüge. Ich schreckte vor meinen eigenen Schlüssen zurück. Es war zu furchtbar und abscheulich, um wahr zu sein. Aber Jackson und Jacksons Arm und das Blut, das mein Kleid befleckte und von meinem eigenen Dache herabtropfte? Und es gab viele Jacksons - Hunderte allein in den Spinnereien, wie Jackson selbst gesagt hatte. Ich konnte Jackson nicht entfliehen.
Ich suchte Herrn Wickson und Herrn Pertonwaithe, die beiden Hauptaktionäre der Sierra-Spinnereien, auf. Aber sie konnte ich nicht zum Wanken bringen wie die beiden Maschinisten, die in ihren Diensten standen. Ich sah, dass ihre Moral der der übrigen Gesellschaft überlegen war. Es war eine Moral, die ich die aristokratische oder Herrenmoral (1) nennen möchte.
Sie redeten weitschweifig über Politik und identifizierten Politik und Recht. Mit mir sprachen sie väterlich, sie behandelten mich gönnerhaft mit Rücksicht auf meine Jugend und Unerfahrenheit. Sie waren die Hoffnungslosesten, die ich in meiner Sache aufgesucht hatte. Sie waren durchaus überzeugt, dass die Spinnereien richtig geleitet wurden. Darüber gab es keine Frage, keine Erörterung. Sie waren überzeugt, dass sie die Führer der Gesellschaft waren und der großen Masse das Glück brachten. Sie entwarfen ergreifende Bilder von dem Elend, das über die Arbeiter kommen musste, wenn sie beschäftigungslos wurden, was sie allein durch ihre Weisheit verhüteten.
Gleich nach der Begegnung mit diesen beiden Herren traf ich Ernst und berichtete ihm, was ich erfahren hatte. Er sah mich befriedigt an und sagte: »Wirklich ausgezeichnet! Sie beginnen auf eigene Faust nach Wahrheit zu schürfen. Es ist Ihre eigene, empirische Verallgemeinerung, und sie stimmt. Kein Mensch an der Industriemaschine ist Herr seines Handelns, außer den Großkapitalisten, und die sind es letzten Endes auch nicht. Sie sehen, die Herren sind vollkommen überzeugt, dass sie in allem, was sie tun, Recht haben. Das ist der Gipfelpunkt der Absurdität in der ganzen Situation. Sie sind so tief in ihre menschliche Natur verstrickt, dass sie nichts tun können, ohne es für Recht zu halten. Sie brauchen eine Sanktion für ihr Tun.
»Wenn sie etwas tun wollen, etwas Geschäftliches, beraten sie, bis in ihrem Hirn irgendein religiöser oder ethischer, wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff entsteht, der ihnen einen Rechtsstandpunkt verleiht. Und dann machen sie sich daran und wissen nicht, dass der Wunsch der Vater des Gedankens ist, eine der Schwächen der menschlichen Seele. Was sie auch tun, sie finden immer eine Sanktion dafür. Eine der angenehmsten und unumstößlichsten Fiktionen, die sie geschaffen haben, ist, dass sie der übrigen Menschheit an Weisheit und Tüchtigkeit überlegen sind. Daher ihre Anmaßung, dass ihnen die Aufsicht über Brot und Butter der übrigen Menschheit zusteht. Sie sind es auch, die die Lehre vom göttlichen Recht der Könige wieder zum Leben erweckt haben - in ihrem Fall der Handelskönige (2).
Die Schwäche ihrer Stellung liegt darin, dass sie nur Geschäftsleute sind. Sie sind keine Philosophen, sie sind weder Biologen noch Soziologen. Wären sie es, so würde natürlich alles gut sein. Ein Geschäftsmann, der zugleich Biologe und Soziologe wäre, würde annähernd das Richtige für die Menschheit zu tun wissen. Aber außerhalb des Reiches ihrer Geschäfte sind diese Männer stumpfsinnig. Sie kennen nur ihre Geschäfte. Sie kennen weder die Gesetze noch die Gesellschaft, und doch machen sie sich zu Herren über das Geschick der hungernden Millionen und der übrigen Millionen dazu. Eines Tages wird die Geschichte auf ihre Kosten schmerzlich lachen.«
Über den Erfolg meiner Unterredung mit Frau Wickson und Frau Pertonwaithe war ich nicht weiter überrascht. Sie waren Damen der Gesellschaft (3). Sie bewohnten Paläste. Sie besaßen viele Häuser, die über das Land, im Gebirge, an den Seen und am Meere verstreut waren. Sie hatten ein Heer von Bedienten, und ihre soziale Betätigung war verwirrend. Sie begönnerten die Universitäten und die Kirchen, und namentlich die Geistlichen lagen in demütiger Unterwürfigkeit vor ihnen auf den Knien (4). Sie waren Mächte, diese beiden Frauen, und das waren sie kraft ihres Geldes. Mit ihrem Gelde förderten sie in bemerkenswertem Maße die Gedanken, wie ich bald von Ernst lernen sollte.
Sie ahmten ihre Männer nach und redeten in den gleichen hohen Tönen über die Politik und über die Pflichten und die Verantwortlichkeit der Reichen. Sie hatten dieselbe Moral wie ihre Männer - die Moral ihrer Klasse, glatte Phrasen, die sie selbst nicht verstanden. Als ich ihnen von der bedauernswerten Lage der Familie Jackson erzählte und meine Verwunderung aussprach, dass sie nichts für den Mann getan hätten, wurden sie aufgebracht. Ich erfuhr, dass sie niemand für Belehrungen über ihre sozialen Pflichten dankbar seien. Als ich sie rundweg bat, Jackson zu helfen, lehnten sie es ebenso rundweg ab. Das Merkwürdige war, dass sie es fast mit den gleichen Worten ablehnten, und das, obgleich ich sie jede für sich aufsuchte, und keine von den beiden wusste, dass ich die andere besucht hatte oder besuchen wollte. Beide antworteten, dass sie sich freuten, es einmal deutlich aussprechen zu können: Nie würde sie eine Prämie auf Fahrlässigkeit aussetzen, und ebenso wenig wollten sie durch Unterstützung die Armen verleiten, sich in die Maschine zu werfen (5).
Und sie meinten es aufrichtig, die beiden Frauen. Sie waren trunken von der Überzeugung ihrer Überlegenheit und der ihrer Klasse. Für alles, was sie taten, fanden sie eine Sanktion in ihrer Klassenmoral. Als ich Frau Pertonwaithes Haus verließ, warf ich noch einen Blick zurück und dachte an Ernsts Worte, dass auch sie an die Maschine gefesselt seien, wenn sie auch obendrauf säßen.
(1) Ehe Avis Everhard geboren war, schrieb John Stuart Mill in seinem Essay Über Freiheit: Wo auch immer es eine aufsteigende Klasse gibt, entsteht ein großer Teil der Moral aus den Interessen und dem Überlegenheitsgefühl dieser Klasse.
(2) Im Jahre 1902 der christlichen Zeitrechnung machte sich der Präsident des Anthrazit-Kohlentrusts, George F. Baer, durch die Verkündung folgender Prinzipien bemerkbar: »Die Rechte und Interessen des Arbeiters werden durch die Männer geschützt, denen Gott in seiner unendlichen Weisheit die Besitzinteressen des Landes in die Hände gegeben hat.«
(3) Gesellschaft. Hier mit einer Einschränkung zu verstehen; dieser Ausdruck war damals gebräuchlich für die Drohnen, die nicht arbeiteten, sondern sich nur aus den Honigwaben der Arbeiter den Wanst füllten. Weder Geschäftsleute noch Arbeiter hatten Zeit für die Gesellschaft. Die Gesellschaft war eine Schöpfung der faulen Reichen, die nicht