Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
mit den Worten begann: ›Sie haben alle diese ungeheuren Summen gehabt ...‹ mit der entrüsteten Gegenfrage antwortete: › Was habe ich davon gehabt?‹
Das war vollkommen richtig. Er hatte nichts davon gehabt. Nichts von den irdischen Wunderdingen, an die sich die Neigungen genußgieriger Menschen zu heften pflegen. Er hatte keinen verfeinerten Geschmack bewiesen, hatte sich keinen Luxus erlaubt. Hatte sich keine Märchenpaläste gebaut oder herrliche Galerien gegründet, von diesen ›ungeheuren Summen‹. Er hatte nicht einmal ein Heim. Er war in seine Hotelwohnung eingezogen und für immer darin sitzengeblieben. Wahrscheinlich zur vollen Zufriedenheit der Hoteldirektion. Man hatte ihn zweimal in der Miete gesteigert, wohl um die Hochachtung vor dem vornehmen Mieter zu beweisen, wie ich glaube. Für all den Reichtum, der durch seine Finger gegangen war, hatte er sich weder Verehrung noch Liebe gekauft, weder Pracht noch Behaglichkeit. Es lag eine Art von Vollendung in seinem beharrlichen Mittelmaß. Sogar seiner Eitelkeit schien die Genugtuung versagt, Macht entfalten zu können. In den Tagen, da er im hellsten Lichte der Öffentlichkeit stand, hing ihm der Schatten seiner niedrigen Herkunft wie ein dunkles Gewand an. Er hatte Millionen durchgebracht, ohne sich an irgend etwas von dem erfreuen zu können, was in der menschlichen Gesellschaft als kostbar gilt. Denn ihm fehlte zu sehr die Genußkraft, wie die feine Geistigkeit, um es mit all der Gewalt eines erfolgreichen Abenteurers herbeiwünschen zu können.«
»Du scheinst den Mann studiert zu haben«, bemerkte ich.
»Studiert?« wiederholte Marlow nachdenklich. »Nein, nicht studiert. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Du weißt, daß ich ihn nur bei der einen eben genannten Gelegenheit gesehen habe; aber vielleicht ist ein einziger kurzer Blick der beste Weg, um eine Persönlichkeit voll zu erfassen; und das war de Barral, kraft seiner Mängel, denn sie machten ihn zu etwas von jeder vorgefaßten Meinung Grundverschiedenem. Für einen Mann wie mich gab es ja auch wenig Grundlagen, um ein Urteil darauf aufzubauen. In diesem Falle glaube ich aber, daß weniges besser ist als viel. Wenn jemand Sinn für all diese Fragen hat; so bietet oft die geringste Kleinigkeit einen triftigen Anhaltspunkt, und dann kommt man durch eine Reihe logisch gefolgerter Wahrscheinlichkeiten zur Wahrheit -- oder doch nahe zur Wahrheit, so nahe, wie es den Umständen nach überhaupt möglich ist. Ich habe de Barral nicht studiert. Doch dies ist das Bild, das ich mir nachher aus den Begleitumständen des Krachs von ihm gemacht habe. Das Heulen und Zähneklappern, die dicken Zeitungsüberschriften ›Der Schwindel mit der Wirtschaftsorganisation. Kreuzverhör des Angeklagten. Extraausgabe‹ --, die nicht verstummen wollten; das salbungsvolle Mitgefühl mit den Opfern, die ernsten Töne der Tagesblätter, die von Erbarmen übergingen, als wären sie das Herz der Nation, all dies hielt durch eine Woche langwieriger Sitzungen an. -- Ein Pressemensch, den ich kannte, sagte mir: ›Er ist ein Idiot‹, was recht gut möglich war. Kurz vorher hatte ich jemanden sagen hören, er hätte ein Verbrechergesicht, was, wie ich wußte, nicht zutraf. Das Urteil wurde bei künstlichem Licht verkündigt, in drückender, verbrauchter Luft. Der Richter sprach einige erbauliche Sätze darüber, daß nun den Mann die gerechte Strafe ereile, der in bisher noch nicht dagewesenem Ausmaße die gewissenlosesten Betrügereien verübt hatte. Ich verstehe nicht viel von diesen Sachen, aber es schien, daß er Bücher gefälscht, Bilanzen frisiert und Einlagen angenommen hatte, noch durch Monate nachdem ihm seine völlige Zahlungsunfähigkeit schon bekannt gewesen sein mußte; auch sonst noch einiges vom menschlichen Standpunkte aus höchst Verwerfliche unternommen hatte, was ihm schließlich sieben Jahre Zuchthaus eintrug. Das Urteil wurde draußen günstig aufgenommen. Eine kleine Menschenmenge, hauptsächlich aus Leuten bestehend, die selbst nicht sonderlich gewissenhaft und zimmerrein aussahen, und von richtigen Taschendieben durchsetzt, machte sich den Spaß, mitten in einem ekelhaften, kalten Sprühregen Hochrufe auszubringen. Ich ging zufällig gerade vorbei, auf dem Rückweg von Eastend, wo ich den Tag in den Docks mit einem alten Kameraden verbracht hatte, der die Ausstattung eines neuen Schiffes beaufsichtigte. Ich bin immer vergnügt, wenn es mir möglich ist, ein neues Schiff zu besichtigen. Die sprechen mich an wie entzückende junge Leute.
Ich geriet in die Menge hinein, deren kochende Entrüstung so sinnlos war, wie die Gefühle der Straße es immer sind, und während ich mir einen Weg hinaus bahnte, wurde der Zeitungsmensch, von dem ich vorher sprach, gegen mich gedrängt. Er ließ mir die Gerechtigkeit widerfahren, überrascht zu sein: ›Was, Sie hier? Der letzte Mensch in der Welt ... Hätte ich das gewußt, dann hätte ich Sie hineinbringen können! Platz genug. Interesse während der letzten drei Tage völlig geschwunden. Sieben Jahre Zuchthaus. Ich bin froh.‹
›Warum froh? -- Weil er sieben Jahre bekommen hat?‹ fragte ich und wurde dabei halb erdrückt von einem ungeschlachten Kerl, der einigen seiner nicht minder ungeschliffenen Genossen eben erklärte, daß der Bursche ›mit einem Beil erschlagen gehört hätte‹. Ich weiß nicht, ob er jemals seine Ersparnisse de Barral anvertraut hatte, doch wenn ja, dann könnten sie nur die Frucht eines geglückten Raubüberfalls gewesen sein. Der Zeitungsmann neben mir beantwortete meine Frage mit Nein. Er war froh, weil alles vorüber war. Er hatte sehr unter der Hitze und der schlechten Luft im Gerichtssaal gelitten. Die rauhe, naßkalte Straßenluft schien sich ihm augenblicklich auf die Leber zu schlagen. Er wurde gehässig und gereizt und gebrauchte rücksichtslos seine Ellbogen, um für sich und mich Platz zu schaffen.
Eine langweilige Geschichte. Alle diese Fälle waren langweilig. Keine wahrhaft dramatischen Spannungen. Die Buchführung der ORB und der übrigen Unternehmungen ergab wohl lehrreiche Enthüllungen, aber das Publikum hatte für Enthüllungen dieser Art nichts übrig. ›Langweiliger Tropf, dieser de Barral‹, knurrte er. Er war außerstande, oder wollte sich vielleicht nicht die Mühe nehmen, mir ein Bild des Mannes zu entwerfen, der nun von Gesetzes wegen ein Verbrecher war (wir waren quer über die Straße in eine Bar gegangen), sondern erzählte mir nur in ganz geringschätzigem Ton, daß der Bursche nach der Urteilsverkündigung sich noch an die Anklagebank geklammert habe, um so etwas wie einen Einspruch anzubringen. ›Sie haben mir keine Zeit gegeben! Hätte man mir Zeit gegeben, so hätte ich es sicher zum Pair gebracht, wie einige unter Ihnen!‹ Und dabei habe er sich, zum ersten und letzten Male während all dieser Tage, eine Gebärde gestattet und eine hart geballte Faust über seinen Kopf erhoben.
Der Zeitungsmann mißbilligte diese Kundgebung. Es war nicht sein Geschäft, sie zu verstehen. Ist es übrigens jemals das Geschäft irgendeines Zeitungsmannes gewesen, irgend etwas zu verstehen? Ich denke nicht. Es müßte ihn ja auch zu weit von den Aktualitäten wegführen, die das tägliche Brot der öffentlichen Meinung sind. Ihm schien wahrscheinlich die Gebärde vom malerischen Standpunkt aus recht unbedeutend. Die schwache Stimme, die farblose Persönlichkeit, einer großen Geste unfähig wie ein Bettpfosten, auch noch die Verfettung der geballten Hand selbst, die so übel zum Ort und der Stunde paßte -- nein, es war nicht viel wert. Und dann war auch für ihn das Denken ein ausgesprochen schlechtes Geschäft, das sich mit seiner vollendeten Berufsauffassung nicht vertrug. Sein Geschäft war es, einen lesbaren Bericht zu schreiben. Ich aber, der ich nichts zu schreiben hatte, erlaubte mir einiges Nachdenken, während wir vor unseren noch unberührten Gläsern saßen. Und dabei erschloß sich mir eine Erkenntnis, wie sie sich so oft zum Lohn einstellt, wenn man von bloßen Gesichtseindrücken absieht und den Dingen auf den Grund geht. Ich glaubte plötzlich zu begreifen, daß in diesem Mann unter dem Druck der Aufregungen und Ängste der Verhandlung die Einbildungskraft erwacht war. In diesem Mann, dessen Stimmungen, Urteile und Beweggründe so häufig tief geheimnisvoll erschienen waren. Und das war furchtbar. Versuche dir nur das Gefühl eines Menschen vorzustellen, dessen Einbildungskraft in dem Augenblick erwacht, wo er ins Grab steigen soll ...«
»Du mußt nicht glauben,« fuhr Marlow nach einer Pause fort, »daß an jenem Morgen mit Fyne alle diese Erinnerungen in mir lebendig wurden. Durchaus nicht. Ich gab mir durchaus nicht gleich Rechenschaft über alles das, was ich dir nun erzählt habe. Wie hätte das auch sein können, da Fyne im Zimmer mir gegenübersaß? Er saß unbeweglich, statuenhaft nach seiner Art, nachdem er sich der nachdrücklichen Zustimmung entledigt hatte: ›Jawohl. Des Sträflings!‹ Und ich, weit davon entfernt, mich in Erinnerungen zu verlieren, blieb so völlig in der Gegenwart, daß ich mir sogar über die erheblichen Ausmaße und, alles in allem, doch nicht unschöne Form seiner festen Wanderschuhe Gedanken machte; denn er hatte die Beine achtlos übereinander geschlagen, wohl um unter der bequemen Haltung seine Verwirrung zu verbergen.
Wie