Zurück in die Würfelwelt. Karl Olsberg
bereits, was los ist, als ich nach Hause komme. Sie macht mir keine Vorwürfe. Stattdessen nimmt sie mich in den Arm. „Ich habe ja geahnt, dass es zu früh war, dich wieder zur Schule zu schicken“, sagt sie. „Jetzt erzähl mal, was ist eigentlich passiert?“
Ich habe wirklich keine Ahnung, würde ich am liebsten antworten. Stattdessen erzähle ich ihr, wie der Winzling und seine Kumpanen Kasim bedrängt haben. „Dann habe ich mich eingemischt, es gab eine Rangelei, und da bin ich plötzlich irgendwie ausgerastet“, beende ich die Schilderung. „Ich weiß auch nicht genau. Auf einmal war ich so unendlich wütend. Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich genau getan habe, bis der Kampf vorbei war.“
Sie sieht mich sorgenvoll an. „Der Direktor hat gesagt, du hast einen der Schüler blutig geschlagen. Du sollst äußerst brutal gewesen sein.“ Sie schüttelt den Kopf. Ihre Augen glänzen, als sie sagt: „Ich verstehe das nicht. Du bist doch sonst nicht gewalttätig. Ich hätte nicht mal gedacht, dass du besonders gut kämpfen kannst. Und gleich gegen drei andere Schüler!“
Ich senke den Blick. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich eine Rüstung und ein Schwert aus Diamant hatte – mit dieser Ausrüstung sind drei Zombies kein großes Problem.
Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lächelt schief. „Aber irgendwie bin ich auch stolz auf dich! Du hast dich für einen schwächeren Schüler eingesetzt. Sei nur nächstes Mal etwas vorsichtiger, okay? Du musst sie ja nicht gleich blutig prügeln!“
„Ja, Mam.“ Ich gehe auf mein Zimmer und lege mich auf mein Bett. Eine Weile starre ich auf das Poster meiner Lieblings-Rockband an der Wand, dann auf das Bild eines Kriechers daneben. Trotz seiner herabgezogenen Pixel-Mundwinkel wirkt es, als sehe er mich mitleidig an.
Was ist bloß mit mir los? Die Frage tobt in meinem Kopf herum wie ein Schwarm wütender Hornissen. Doch eine Antwort finde ich nicht.
Am Nachmittag ruft der Direktor noch einmal an und teilt Mam mit, dass er mit der Mutter des Winzlings gesprochen habe, die auf eine Anzeige verzichte. Man erteile mir einen offiziellen Tadel, sehe aber angesichts der besonderen Umstände (damit meint er wohl mein Koma) von weiteren Disziplinarmaßnahmen ab. Ich könne daher am nächsten Tag wieder zum Unterricht kommen, wenn sie es für richtig halte.
Mam hält das natürlich nicht für richtig, aber ich beknie sie, bis sie schließlich nachgibt. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich unbedingt wieder in die Schule will. Vielleicht, weil ich immer noch die schwache Hoffnung habe, Amelie dort wiederzusehen, obwohl sie auf all meine Kommunikationsversuche nicht reagiert. Möglicherweise auch, weil ich mir selbst beweisen will, dass die Sache heute Morgen ein einmaliger Ausrutscher war, eine seltsame Fehlfunktion des Gehirns als Nachwirkung meines Komas. So was kann ja mal vorkommen. Aber es wird ein Einzelfall bleiben. Schließlich bin ich nicht verrückt. Oder?
Etwas ist anders, als ich am nächsten Tag in die Schule komme. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich habe das Gefühl, die anderen werfen sich Blicke zu, wenn ich nicht hinsehe. Wahrscheinlich halten sie mich für ein Monster, einen brutalen Schläger, mit dem keiner was zu tun haben will. Das denke ich jedenfalls, bis in der ersten Pause Anne auf mich zukommt, begleitet von zwei Freundinnen, die sich dauernd ansehen und kichern.
„Marko, du bist doch gut in Mathe, oder?“, fragt sie.
Verdutzt blicke ich sie an. Anne ist nach übereinstimmender Ansicht aller Jungs das schönste Mädchen der Klasse. Sie hat lange, goldene Haare und Augen, die so blau und klar sind wie der Sommerhimmel. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass diese Beschreibung nicht von mir stammt, sondern von Jan, der ganz schön in sie verschossen ist. Bisher hat Anne allerdings nichts getan, das darauf schließen ließe, dass sie überhaupt von Jans Existenz weiß, geschweige denn von meiner.
„Mathe? Ja, geht so, wieso?“
„Kannst du mir vielleicht mit den Hausaufgaben helfen? Ich hab’s gestern nicht mehr ganz geschafft. Und du weißt ja, wie Braukmann ist.“ Ein leichtes Lächeln umspielt ihre geschminkten Lippen. Ihre beiden Freundinnen kichern.
„Ich fürchte, ich habe die Hausaufgaben auch nicht. Ich war … krank.“
„Ja, ich weiß. Aber kannst du nicht mal kurz draufgucken?“ Sie stellt sich neben mich und hält mir ihr Heft hin, so dass wir beide hineinsehen können. Ein Duft wie von Heu und frischen Blumen geht von ihr aus. Dort, wo die Hausaufgaben für heute stehen sollten, ist nur das gestrige Datum eingetragen.
„Du hast ja noch gar nichts gemacht!“, stelle ich fest.
Das findet sie offensichtlich lustig, denn sie kichert. „Au Backe, du hast recht! Verdammt, was mach ich denn jetzt bloß? Wir haben doch schon in der übernächsten Stunde Mathe!“
Erwartet sie ernsthaft, dass ich ihre Hausaufgaben mache? Während der Kunststunde? Ich sehe sie fragend an, doch sie zeigt mir nur ihr aufreizend-unschuldiges Lächeln.
„Du … du weißt nicht zufällig, was mit Amelie ist, oder?“, frage ich.
Es ist, als zögen dunkle Gewitterwolken vor den blauen Himmel in ihren Augen. „Amelie? Welche Amelie?“, fragt sie in einem Tonfall, als hätte ich ihr eine äußerst unanständige Frage gestellt.
„Amelie aus der Parallelklasse. Sie hat dunkle lockige Haare. Sie war zwei Wochen nicht in der Schule, sollte aber eigentlich seit gestern wieder da sein.“
Annes Freundinnen finden das aus irgendeinem Grund sehr lustig. Anne dagegen offensichtlich nicht. „Kenn ich nicht“, sagt sie, klappt das Matheheft zu und verschwindet, ihre kichernden Begleiterinnen im Schlepptau. Als sie ein paar Schritte gegangen sind, blafft sie ihre Freundinnen an, die daraufhin aufhören, zu kichern.
Kurz darauf kommt Jan zu mir. „Hi Marko. Was wollte denn Anne von dir?“ Er versucht, gleichgültig zu wirken, was ihm gründlich misslingt.
„Sie wollte, dass ich ihr die Mathe-Hausaufgaben mache. Weiß auch nicht, wieso sie damit ausgerechnet zu mir kommt.“
Er wirft einen sehnsüchtigen Blick zu Anne, die am anderen Ende des Schulhofs steht und uns den Rücken zu gedreht hat. „Na, ist doch klar“, sagt er, und seine Stimme klingt traurig. „Seit gestern bist du doch der Held!“
„Der Held? Ich? Wieso denn das?“
„Na, weil du dem Winzling eine verpasst hast. Den mag doch keiner. Selbst Schrank will auf einmal nichts mehr mit ihm zu tun haben. Der kann einem fast leidtun.“ Er grinst.
„Gestern hast du gesagt, dass das gar nicht gut war.“
„Klar, im ersten Moment bin ich ein bisschen erschrocken. So kannte ich dich gar nicht. Aber im Nachhinein … Er hat es auf jeden Fall verdient. Und jetzt bist du eben der tolle Hecht der Klasse!“
Ich verziehe den Mund. Auf diese zweifelhafte Ehre würde ich gern verzichten. „Vielleicht solltest du Anne mal fragen, ob du ihr bei den Mathe-Hausaufgaben helfen kannst.“
Eigentlich habe ich es sarkastisch gemeint, aber Jans Gesicht hellt sich auf. „Meinst du? Ja, vielleicht hast du recht!“ Ehe ich ihn zurückhalten kann, ist er schon unterwegs zum anderen Ende des Schulhofs.
Als ich ihm nachsehe, stellen sich plötzlich meine Nackenhaare auf. Am Zaun, der den Schulhof umgibt, steht ein dunkel gekleideter Mann, der in meine Richtung zu starren scheint. Er trägt einen Hut, der sein Gesicht in tiefe Schatten taucht. Ich glaube, darunter zwei violett leuchtende Punkte wahrzunehmen. Doch ehe ich mir sicher sein kann, wendet er sich ab und verschwindet hinter einer Mauer.
Ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen.
Die Pausenglocke erlöst mich aus meiner Starre. Wir haben Kunst bei Frau Dr. Hennigmeier, einer zierlichen Frau Anfang fünfzig mit kurzen grauen Haaren. Sie erklärt uns anhand einer Gliederpuppe, wie der Körper Gefühle ausdrücken kann. Dann verteilt sie Zeichenblöcke und Farbkästen. Wir sollen einen traurigen Mann malen, jedoch ohne sein Gesicht auszuarbeiten.
„Der sieht aber nicht traurig aus“, sagt sie etwas später zu mir. „Eher … böse.“
Ich