Nesthäkchens Backfischzeit. Else Ury

Nesthäkchens Backfischzeit - Else Ury


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fahren wirklich fort in unserm Latein.«

      Hanne aber, die alte Köchin bei Doktors, welche alle drei Braunschen Sprößlinge einst auf ihren derben Armen gewiegt hatte, war anderer Meinung. Sie öffnete ohne Umschweife die Tür, stellte eine kalte Speise – »Blubber« nannten ihn die Mädels – mitten auf den Tisch neben die lateinische Grammatik und verkündete: »So – nu Schluß mit die Jelehrsamkeit! Jetzt wird erst mal 'n bißchen jefuttert. Vorn Magen sorjen is besser als vorn Kopp.« Hanne war ein Unikum. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Doktors hielten ihrer bewährten Treue manch offenes Wort zugute. Mit Nesthäkchens Gymnasiallaufbahn war sie ganz und gar nicht einverstanden. »Puren Unverstand« nannte sie es, daß das »Kind« all das gelehrte Zeug in seinen Kopf pfropfen mußte.

      »So, Annemiechen, kram man das Jeschreibsel zusammen, daß ich die Teller rumsetzen kann.« Hanne duzte immer noch Annemarie, trotzdem die ihr fast schon über den Kopf gewachsen war. Aber wenn sie zu dem Hausmädchen von ihr sprach, sagte sie nicht anders als »unser Fräulein« – anders tat Hanne es nicht.

      Die Backfischchen waren durchaus nicht böse über die angenehme Unterbrechung. Sie zeigten fast noch größeren Eifer bei der eingehenden Beschäftigung mit der Speise als vorher bei der lateinischen Konjugation. Und als man seine Pflicht voll und ganz erfüllt hatte, indem man die Kränzchenspeise bis zum letzten Körnchen vertilgt hatte – wenn Klaus sich nicht als bedachter Mann noch rechtzeitig eingestellt, hätte er das Nachsehen gehabt – ja, nachher war es auch zu spät geworden, um noch einmal mit Latein zu beginnen. Denn der noch immer trotz Friedens knappen Lebensmittel wegen fand das Kränzchen ohne Abendbrot statt. Um acht Uhr mußte eine jede daheim sein. Und Marlene und Ilse hatten einen weiten Weg.

      Mit vielen Küssen trennte sich das lustige halbe Dutzend.

      »Auf Wiedersehen – auf Wiedersehen« – – – »Daumen drücken zu Montag!« – – – Nur Margot, die in demselben Haus wohnte, blieb noch ein Weilchen und ward dadurch wieder von ihrem Schmerz geheilt, denn jetzt war sie wieder Annemaries »Beste«.

      2. Kapitel

      Die Untersekunda schippt Schnee

      Es schneite – schneite – was nur vom Himmel herunter wollte. Große dicke Watteflocken, kleine zierliche Silbersterne – jetzt eine große weiße Puderwolke, ein lustiger Schneewirbel – und nun wieder still und stetig, gleichmäßig und sacht.

      Ein dicker weißer Samtteppich breitete sich über die Plätze und Straßen Berlins. Die Häuser schauten ganz merkwürdig aus hohen weißen Zipfelmützen heraus.

      Auf dem Blumenbrett vor Nesthäkchens Fenster türmten sich die Schneemassen. Kaum vermochte Annemarie am Morgen über den hohen Schneeberg zu ihrer Freundin Margot hinüberzuspähen.

      »Eine Gottesmauer – eine weiße Gottesmauer! Ach, wenn sie doch unser ganzes Haus umschlösse, dann könnte ich nicht in die Schule gehen!« Das Backfischchen blickte von seinem Morgenfrühstück zweifelnd in das Schneegestöber hinaus, ob es wohl so weit kommen könnte.

      »Aber Lotte, du bist doch sonst nicht so faul,« meinte die Mutter erstaunt, während sie dem Töchterchen die Schulbrote zurecht machte.

      »Na, erstens ist heute Montag, da ist's immer eklig, in die Schule zu gehen. So dunkel und kalt ist's an keinem anderen Tage in der Woche! Und dann das lateinische Versetzungsextemporale heute – ach, wenn uns doch die Gottesmauer davor bewahren möchte!«

      Frau Doktor mußte lachen.

      »Bist du ein Kindskopf, Lotte! Lerne doch lieber vorher fleißig zum Extemporale, dann brauchst du keine Angst zu haben.«

      »Bammel heißt es bei uns auf dem Gymnasium,« unterbrach Annemarie sachgemäß die Mutter. »Aber wo ist denn Vater und Klaus?« Sie wies verwundert auf die noch unberührten Gedecke. Der Vater, der in seinem ärztlichen Beruf sehr angestrengt war, hielt darauf, die Mahlzeiten mit seiner Familie gemeinsam einzunehmen. Waren dies doch die einzigen Ruhestunden, die der vielbeschäftigte Arzt sich gönnte.

      »Wenn du wüßtest, wo die beiden stecken.« Die Mutter machte ein verschmitztes Gesicht. »Sie sorgen dafür, daß keine Gottesmauer um unser Haus wächst, damit du heute dein Extemporale schreiben kannst.«

      »Was – wieso denn?« Nesthäkchens rundes Gesicht sah so verständnislos drein, daß die Mutter laut lachen mußte.

      »Ja, da staunst du! In aller Herrgottsfrühe hat der Hausmeister heute schon die Mieter zum Schneeschippen auffordern lassen. Jeder gesunde Mensch ist dazu verpflichtet, weil der Magistrat sonst nicht dieser unaufhörlich sich erneuernden Schneemengen Herr werden kann, und der ganze Verkehr dadurch stockt. Da ist Vater noch vor seiner Sprechstunde zum Schneeschippen hinuntergegangen, und den Klaus hat er mitgenommen.«

      »Vater schippt Schnee?« Hellauf lachte ihr Nesthäkchen. »Das muß ich sehen« – und spornstreichs wollte es hinaus nach dem Balkon, wo der Schnee schon die halbe Tür bedeckte.

      »Hiergeblieben, Lotte!« rief die Mutter hinter ihr her. »Ich kriege ja das nasse Zeug ins Wohnzimmer herein. Wenn du nachher zur Schule gehst, kannst du den Vater unten bewundern.«

      »Ich gehe nicht in die Schule,« erklärte plötzlich das Töchterchen mit Bestimmtheit. »Ich bin ebenso zum Schneeschippen verpflichtet wie Klaus. Ich bin auch ein gesunder Mensch – Hurra, das lateinische Extemporale können sie ohne mich schreiben!«

      »Jawohl, daraus wird nichts, Fräulein Faulpelz,« tönte es von der Tür her, und herein trat der Vater mit kältegerötetem Gesicht. »Eine Pflicht darf nicht um einer andern willen vernachlässigt werden. Ich gehe jetzt auch in meine Sprechstunde und der Klaus in die Schule. Aber wir haben tüchtig geschafft. Nun soll der heiße Kaffee noch mal so gut munden.«

      »Och«, machte Nesthäkchen enttäuscht, und das runde Gesichtchen wurde lang. »Ich habe mich schon so auf das Schneeschippen gefreut.«

      »Ich fürchte, wenn das draußen so weiter geht, werdet ihr nachmittags noch antreten müssen und Hanne auch«, scherzte der Vater, auf die gerade mit heißem Kaffee eintretende rundliche Küchenfee weisend.

      »Ja, Kuchen – nischt zu machen! Mit mir soll Kulicke unten« – das war der Hausmeister – »man ja nich anfangen. Wenn andere Leute so varrickt sind und ihm seinen Schnee vor'n Haus wechschippen, ich hab' Jott sei Dank noch meine jesunden Sinne. Und ieberhaupt weiß ich, was ich mich als herrschaftliche Köchin schuldig sein tu.« Hanne war nämlich empört darüber, daß »ihr Doktor« so wenig Standesbewußtsein hatte und sich zum Schneeschippen zur Verfügung gestellt hatte. Was sollten denn bloß die Patienten davon denken!

      »Also Hanne, heute nachmittag treten wir zusammen zum Schneeschippen an«, neckte nun auch Annemarie.

      »Du, mach, daß de in de Schule kommst und ieberhaupt hab' ich das Reißen in alle Knochens!« Damit schmetterte Hanne aufgebracht die Tür zu.

      »Komische alte Kruke!« lachte Klaus hinter ihr her.

      Annemarie aber warf einen besorgten Blick auf die Standuhr in der Ecke.

      Himmel – zehn Minuten zu acht! Nun hieß es aber dalli – dalli! Die pflichteifrige Margot, mit der sie meistens den Schulweg zurücklegte, würde sicher heute nicht mehr unten warten. Die Pelzmütze auf das Blondhaar gestülpt, Mantel angezogen – Schultasche – waren auch alle Bücher drin? Na hoffentlich! Jetzt war keine Zeit mehr nachzusehen. Was fehlte noch? Richtig, die Hauptsache: Das Frühstück!

      »Lotte, die hohen Überschuhe! Daß du mir bei dem Schneewetter nicht ohne Überschuhe gehst«, rief die Mutter besorgt.

      »Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr dazu, es ist wahnsinnig spät.« Annemarie wollte auf und davon.

      »Du ziehst die Überschuhe an, Annemarie!« Das war Vaters bestimmter Ton, gegen den es keine Einwendung gab. Und überhaupt, wenn er Annemarie und nicht Lotte zu ihr sagte, dann war er ärgerlich. »Du hattest Zeit genug, früher anzufangen.«

      Annemarie zerrte bereits ihre sämtlichen


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