Bis ins Hochland, dann nach links. Johanna Danneberg

Bis ins Hochland, dann nach links - Johanna Danneberg


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zurücklassen.“

      „Das ist kein Müll!“

      Mir traten Tränen in den Augen, etwas, das mir seit Jahren nicht mehr passiert war. Das wiederum schien die Stimmung der Frau aufzuheitern, denn unverhofft zog sie ihre Mundwinkel nach oben, was allerdings eher einer Fitnessübung für ihre Gesichtsmuskeln ähnelte, als einer Gefühlsregung.

      „Das ist die Macht der Eliten. Die reden uns ein, was wir alles brauchen für unser Glück. Konsum, Konsum, Konsum. Immer nur Geld, Geld, Geld. Dabei stecken sie mit den Politikern unter einer Decke. Alles Lobbyismus. Alle gekauft.“

      Sie sah mich eindringlich an, wobei ich das nicht so genau erkennen konnte, weil ihre Brille beschlug. Vielleicht sah sie auch jemanden hinter mir, der gar nicht da war?

      „Geschwind, geschwind, wie ein Wirbelwind“, erklärte ich.

      Damit hatte sie offensichtlich nicht gerechnet.

      „Gern geschehen“, sagte sie schließlich, als hätte ich mich bedankt, und dann stapfte sie in die einsetzende Dämmerung davon. Ich wollte nicht, dass sie ging.

      „Wo kommst du eigentlich her?“, rief ich ihr hinterher. „Und wie heißt du? Ich bin Mella, übrigens!“

      Sie drehte sich nicht noch einmal um, aber ich hörte sie auf Deutsch antworten:

      „Linda. Aus der Schweiz.“

      Dann war sie weg.

      Mir war kalt.

      ***

      Am Ende ließ ich die Sachen tatsächlich dort am Wegesrand liegen. Ich zog meine Regenjacke wieder über, setzte den Rucksack auf, der sich federleicht anfühlte, und während ich weiterwanderte hing ich etwa fünf Minuten lang in Gedanken bei meinen Blusen. Dann ließ ich es sein.

      Der bleigraue Himmel riss für einen Moment auf und ließ einen ersten Blick auf ferne Berge und ein Stückchen rosafarbenen Abendhimmels zwischen den Regenwolken zu. Hinter mir, auf der anderen Seite des Flusses, sah ich zwar immer noch die Ausläufer des Industriegebietes, aber vor mir lag endlich so etwas wie Wildnis.

      Der Park ging über in den von Linda beschriebenen Wald. Leider war es kein lichter Fichtenwald, wie die Wälder rund um Berlin, sondern ein verschlungenes Dickicht aus Bäumen und Sträuchern, die nicht in die Höhe zu wachsen schienen, sondern in die Breite. Ich hatte mir vorgestellt, mein Zelt auf einer kleinen Lichtung aufzuschlagen, mir mein Abendessen zu kochen und in aller Ruhe die Eindrücke des Tages in mein Tagebuch zu schreiben, aber in der undurchdringlichen, tropfnassen Vegetation hier gab es nicht eine Stelle, wo ich das Zelt hätte aufbauen können.

      Dabei war es noch nicht mal groß, ein Ein-Personen-Zelt, etwa zwei Meter lang und einen Meter breit.

      Ekat hatte mir gezeigt, wie es aufzubauen ging, schließlich war ich noch nie zelten gewesen. Meine Mutter hatte immer all-inclusive-Angebote in irgendwelchen Hotelburgen an der türkischen oder griechischen Küste gebucht und sich schrecklich schuldig dabei gefühlt, was meine Schwester und mich natürlich nicht gestört hatte. Mit unserem Vater waren wir nie in den Urlaub gefahren, da er seine Praxis nie schloss. Ich glaube, er würde auch an Weihnachten arbeiten, wenn er könnte. Und mit Falk war ich in den vier Jahren, die wir zusammen gewesen waren, zweimal an die Ostsee in eine Ferienwohnung gefahren.

      Mittlerweile umgab mich ein milchiges Dämmerlicht wie federleichte feuchte Seide. In der Ferne läutete eine Kirchturmuhr acht Mal. Ratlos hielt ich an.

      „Soll ich das Scheißding etwa auf dem Weg aufschlagen?“, schimpfte ich vor mich hin.

      Plötzlich wusste ich nicht mehr, was zum Teufel ich hier eigentlich tat! Ich würde den nächsten Flug zurück nach Berlin nehmen, entschied ich und holte mein Handy hervor. Dann würde die dumme Tante von eben, die mir prophezeit hatte, dass ich nie im Leben schaffen würde, eben Recht behalten. Der Handybildschirm leuchtete blau und friedfertig auf. Ich würde nach Milngavie zurücklaufen, nein, besser noch, nur bis zu dem Industriegebiet, meine Sachen wieder einsammeln, und mir ein Taxi rufen. Ich würde in irgendeinem Hotel einchecken, mir eine heiße Wanne einlaufen lassen, und in einem weichen Daunenbett schlummern. Ich rief die App der Billigairline auf. Egal was es kosten würde, der erste Flug morgen würde meiner sein!

      Dann erblickte ich das kleine durchgestrichene Symbol am oberen Bildschirmrand. Kein Netz. Nichts. Totales Funkloch.

      In diesem Moment hörte ich das erste Mal den Kuckuck. Ich glaube, wenn der Kuckuck nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich wirklich umgekehrt. Aber irgendetwas an diesem sanften Ruf, an dieser angenehmen Altstimme des Vogels, der irgendwo in der Nähe im Gebüsch hocken musste, hielt mich ab, und ich beschloss, es wenigstens für diese eine Nacht einfach irgendwo zu versuchen.

      Ich schlug mich vom Weg hinein ins Dickicht. Unter dem Blätterdach war ich wenigstens vor dem Regen geschützt. Ich fand eine halbwegs ebene Stelle, räumte eine kleine Fläche notdürftig von Gestrüpp und morschen Zweigen frei und rollte das Zelt auseinander.

      Es war zügig aufgebaut. Rasch stopfte ich meinen Rucksack unter das winzige Vordach, räumte die Isomatte und den Schlafsack ins Zeltinnere, zog die Stiefel aus, und kroch hinterher. Es tat so unfassbar gut, sich auszustrecken, dass ich laut aufseufzte. Und der Schlafsack war herrlich warm.

      Nur kurz ausruhen, dann gibt's Abendbrot, dachte ich, und lauschte dem vereinzelten Plätschern der Tropfen, die den Weg durch die Baumkronen fanden, auf das Zeltdach. Ich war schneller eingeschlafen, als ich „Milngavie“ denken konnte.

      Kapitel Vier

      Am nächsten Morgen wachte ich sehr früh auf, mit klammen Klamotten, aber erstaunlich ausgeruht. Draußen war es ganz ruhig, bis auf das beständige Rauschen der Blätter im Wind. Wahrscheinlich wäre ich noch eine Weile im warmen Schlafsack liegen geblieben, wenn ich nicht dringend pinkeln gemusst hätte.

      Ich wühlte mich aus dem Zelt, und als ich mich hinter einem Busch ein paar Meter weiter hinhockte, stellte ich fest, dass ich von der kurzen Strecke gestern einen unvorstellbaren Muskelkater im Hintern hatte. Irgendwie kam ich wieder auf die Beine. Mein Magen knurrte vernehmlich. Abgesehen davon fühlte ich mich blendend.

      Die Luft war klar und nicht zu kalt, und durch das Blätterdach sah ich kleine Flecken blauen Himmels. Erste Strahlen der Morgensonne fanden ihren Weg hindurch. Ich wusste, dass der Weg nur ein paar Meter von mir entfernt vorbeiführte, dennoch fühlte ich mich hier in meiner kleinen Kuhle mitten im Wald so sicher und geborgen wie in einer Höhle.

      Ich entdeckte einen kleinen Teich mit silbrig glänzendem Wasser, auf dem ein paar Blätter schwammen. Ein Bächlein schlängelte sich zwischen den Bäumen oberhalb durch dunkelgrünes Gras und speiste das Wasserloch.

      Kurzerhand zog ich mich aus und watete hinein. Meine Füße versanken in einer weichen Schicht aus Blättern, Schlamm stieg hoch, doch das Wasser was erfrischend und irgendwie sanft.

      Hinterher stand ich am Rand, trocknete mich ab und lachte laut, was sich seltsam anhörte im stillen Wald. Meine Klamotten von gestern waren immer noch klamm, rochen aber nicht unangenehm, obwohl ich ja sogar darin geschlafen hatte. Ein Deo hatte ich nicht mehr, seit die missmutige Linda es mir weggenommen hatte, aber das fand ich gar nicht mehr so schlimm.

      Ich kochte eine riesige Portion Haferflocken zu Porridge auf, verspeiste dazu den Apfel, den ich noch vom Flug dabei hatte, und trank zwei große Becher heißen süßen Cappuccino. Dazu hörte ich Katy Perry auf meinem Handy. Dann verstaute ich meinen Kram im Rucksack, diesmal so, dass ich überall gut würde dran kommen können, und kämpfte mich durchs Dickicht zurück auf den Weg.

      Vor mir lag der West Highland Way als breiter Trampelpfad, der weiterführte durch diesen dichten grünen Farnwald. In der Ferne war zwar noch das leise Brummen des Verkehrs aus Milngavie zu hören, aber trotzdem schien die Zivilisation schon sehr weit weg, obwohl ich gestern bloß zwanzig Minuten, maximal eine halbe Stunde gelaufen war.

      Der Kuckuck rief zweimal, als wolle er „Los geht’s, los geht‘s!“ sagen.


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