ENDE DER BEDENKZEIT. Erhard Schümmelfeder

ENDE DER BEDENKZEIT - Erhard Schümmelfeder


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      Erhard Schümmelfeder

      ENDE DER BEDENKZEIT

      Erzählungen

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       Verlagslogo

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       DER DROHBRIEF

       DER AUSWEG

       DER VERDACHT

       ENDE DER BEDENKZEIT

       DIE BEURTEILUNG

       WEITERE BÜCHER DES AUTORS

       Impressum neobooks

      DER DROHBRIEF

      Großvater erzählt eine Geschichte

      Das Ergründen verborgener Geheimnisse in handgeschriebenen Briefen ist eine gedankliche Übung, an der ich immer wieder mein Vergnügen finde.

      Nach dem raschen Aufreißen des verklebten Umschlages folgt das Herausziehen und Entfalten des Papiers. Innerhalb weniger Sekunden wird das Geschriebene von mir überflogen und sein mehr oder weniger bedeutsamer Inhalt zur Kenntnis genommen. Neben dem objektiven Informationsgehalt einer Nachricht entdecke ich vielerlei unterschwellige Botschaften, die ich bewusst oder unbewusst in mein Denken einbeziehe: Der Geruch des Papiers, offensichtliche Fehler, das Schriftbild, die Wahl der Wörter, Bilder, Vergleiche, die Schönheit neuer Formulierungen und die Gliederung der Gedanken durch Absätze. Die Länge eines Briefes, die Sorgfalt bei der sprachlichen Gestaltung und der unterschwellige Ton vermitteln etwas vom Grad der Wertschätzung, die mir, dem Empfänger, entgegengebracht wird.

      Ein handgeschriebener Brief ist für mich immer etwas sehr Persönliches, Intimes, denn er offenbart auf verschiedenen Ebenen die inneren Befindlichkeiten des Schreibers: seine Einstellung zu den Dingen des Lebens, Sensibilität, Bildung, Weltoffenheit usw. Zu den häufigsten Briefschreiber-Typen gehören: Der Formstrenge, der Sachliche, der Unverbindliche, der Rechtschreibsichere, der pflichtmäßig Bedauernde, der Vernünftige mit den ironischen Bemerkungen in "Anführungszeichen" ... usw. Allerdings ist dies jeweils nur eine vorläufige Grobeinteilung, denn bei genauer Betrachtung erweisen sich die meisten Briefschreiber als Misch-Typen. So auch der humorlose Droher, mit dem ich im Alter von dreizehn Jahren meine ersten Erfahrungen machte.

      Nach den Ferien kam ein Neuer in unsere Klasse. Er hieß Ludger und war ein Sitzenbleiber. Im Sport erwies er sich als einer der eifrigsten, wenn er mit hochrotem Kopf, schweißtriefend und keu­chend, dem Ball nachjagte. Da er sich einen Namen als laufstarker Fußballer gemacht hatte, genoss er das Ansehen der anderen Schüler, für die sportliche Fähigkeiten und Körperkraft mehr zählten als theoretisches Wissen.

      Bald wurde er auch zum Klassensprecher gewählt. Im Unterricht spiel­te er den Braven. Auf dem Schulhof ließ er die Maske fallen und erprobte seinen Machteinfluss unter uns Jungen, indem er sich ironisch-überlegen gab. Die meisten von uns unterwarfen sich und erkannten seine Führerschaft an. Oft äußerte er witzige Bosheiten über Schwächere, während die feigen Mitläufer den lachenden Hintergrund bildeten. Ludger, mehr als ein Jahr älter als wir, schien seine physische Überlegenheit zu genießen. Ich empfand keine Sympathie für ihn und hielt mich zumeist abseits.

      Bei Klassenarbeiten hatte Ludger seine Mühe, denn jedes Mal rötete sich sein Gesicht und er begann zu transpirieren, wobei ihn ein herber Kohlsuppengeruch umgab. Innerlich begann ich die Nase über ihn zu rümpfen. Er war ein geistloser Schwitzer, zu dem die anderen kurioserweise aufblickten und vor dem sie kuschten.

      Da er bei Streitereien gelegentlich auch Schläge austeilte, wurde deutlich, wie gerne er derbe Späße mit anderen trieb, selbst jedoch keinen Spaß verstand. Bereits nach kurzer Zeit kam es zwi­schen ihm und mir zu kleineren Wortgefechten, aus denen er nicht überzeugend als Sieger hervor­ging. Körperlich war er mir voraus, das war offensichtlich. Was konnte ich ihm entgegensetzen?

      Meine Abneigung gegen ihn beschränkte sich weitgehend darauf, ihn nicht zu beachten. Wenn ich vor dem Unterricht unter den Kastanienbäumen des Schulhofs Klassenkameraden traf, in deren Mitte er sich aufhielt, überging ich ihn bei der Begrüßung. Auch bei Gesprächen mit anderen Jungen verstand ich es, ihm stets den Rücken zu kehren und von der Teilnahme auszugrenzen. Aus der Einschätzung, gegen seine rohen Gewaltattacken machtlos zu sein, war dies das einzige Instrumentarium, um meine Opposition gegen ihn zum Ausdruck zu bringen. Ich war ein heimlicher Widersacher - dies blieb ihm indessen nicht verborgen. Einmal versuchte er mich einzuschüchtern durch einen harten Schneeball, den er in winterlicher Kälte vor dem gläsernen Schuleingang nach mir warf, ohne jedoch zu tref­fen. Wollte er meinen Respekt erzwingen?

      Eines Tages hielt er mich vor dem Eintreten in unser Klassenzimmer an der Schulter fest. Ich spürte seinen festen Griff, wandte mich zur Seite und hob meinen rechten Arm, um mich aus der groben Umklammerung zu befreien, doch zögerte ich, seine Hand zu berühren und sagte nur: „Bitte nicht anfassen. Ich mag das gar nicht.“ In seinen sich verengenden Augen las ich, dass er in meinem angewiderten Minenspiel und im Ton meiner Stimme wahrnahm, wie geringschätzend ich ihn betrachtete. Indem er seinen Griff lockerte und mich ruppig beiseite stieß, brachte er seinerseits zum Ausdruck, mir mit ähnlichen Empfindungen zu begegnen. Noch wusste ich es nicht sicher, doch ahnte ich bereits: Wir befanden uns im Zustand einer heraufdämmernden Feindschaft.

      Ich erinnere mich der schulischen Mode, während des Unterrichts kleine Briefchen zu schreiben und diese heimlich von Tisch zu Tisch weiterzureichen. Die mehr­fach gefalteten Blätter schrumpften vor dem Transport auf die Größe eines halben Daumens und enthielten auf der Oberseite den Namen des Empfängers. Oft ging es in den Mitteilungen um banale und alberne Dinge, die keine echte Bedeutung besaßen. Während wir mit gespielt unschuldigen Gesichtern dem Unterricht folgten, gab es unter den Schulbänken einen lautlosen und raschen Postverkehr, der vom unterrichtenden Lehrer nie bemerkt wurde.

      Einmal blickte ich durch eines der Fenster. Draußen auf dem Hof fing es an zu schneien. Kurz darauf er­hielt ich einen kleinen Brief. Ich entfaltete unauffällig das von einem Spiralblock abgerissene weiße Blatt und las die mit einem Rufzeichen versehene Botschaft, ich dürfe mich in der nächsten Pause auf ein paar besonders harte Schneebälle gefasst machen. Es war die schadenfrohe Drohung eines anonymen Verfassers. - Meine Augen schweiften suchend durch den Klassenraum. Überlegen grinsend schaute Ludger zu mir herüber und formte mit den Händen einen imaginären Schneeball. Abermals überlegte ich, was ich diesem hochgeachteten Dummkopf entgegensetzen könnte. In seiner knappen Mitteilung, die nur aus zwei Sätzen be­stand, fielen mir zwei offensichtliche Fehler auf. Was nun? –

      Unter den Blicken meiner Mitschüler zog ich ei­nen roten Filzstift aus dem Etui, unterstrich die fehler­haften Worte, wie unser Lehrer es bei Klassenarbeiten zu tun pflegte, markierte am Rand des Blattes durch zwei senkrechte Striche Ludgers Rechtschreibschwäche und schrieb unter den Text die Note 5. Auf den oberen Rand des Papiers setzte ich in Druckbuchstaben den Namen des Verfassers. In meinem Übermut faltete ich das Blatt nicht zusammen, sondern schickte es offen über meinen rechten Nachbarn, mit einem weiten Umweg, zu den entfernten Bänken der Klassengemeinschaft, denn alle Schüler sollten sich ein Bild von den Schreibkünsten unseres Klassensprechers machen.

      Bald wurde hier und da leise gekichert, und es dauerte eine gewisse Weile, bis Ludger mit gerötetem Kopf seinen Drohbrief erneut in Händen hielt. Von einem Jüngeren


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