Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit. Katja Kerschgens
dann kamen im gleichen geschäftsmäßigen Tonfall die schlechten Nachrichten. Nadine schluckte. Das würde nicht lustig werden.
»In Ordnung, alles klar, Frau Dr. Niefanger«, sagte sie, während sie schon mit flinken Fingern den Text umformatierte, damit er für die Studioarbeit geeignet war. Brigitte war immer noch im Krankenhaus, alle anderen hatten ihre eigenen laufenden Projekte. Sie war wieder im Rennen.
Michas Handynummer wusste sie auswendig, sie erwischte ihn beim Einkauf an der Supermarktkasse. Grantelnd versprach er, in fünfzehn bis zwanzig Minuten im Studio zu sein. Aber wie lautete die Nummer von Serafin? Sie fingerte nach ihrem Handy. Nein, nichts zu machen, er hatte letztens mit unterdrückter Rufnummer bei ihr angerufen. Sie drehte ihren Schreibtischstuhl zurück zum Computer und rief die Datenbank der Sprecher auf. Er war dort nicht aufgeführt. Es war sein erstes Projekt für diesen Hörbuchverlag, niemand hatte bislang seine Daten in das System aufgenommen. Verflixt. Sie wählte wieder Michas Nummer. Er war gerade dabei, sein Auto mit seinen Einkäufen zu bepacken.
»Was, wie ...? Der Herr Noack?«, Gerausche und Geknister ließen ahnen, dass er sich das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, »ja, ja, ich sag ihm Bescheid.«
Nadine legte auf. Sie rief das Manuskript noch einmal auf und überflog die ersten Seiten. Das sah nicht gut aus. Sie startete den Druckauftrag und stellte sich an den Drucker auf dem Flur. Sie war nicht allein, drei weitere Kolleginnen standen zusammen, redeten leise, tauschten Blicke. Das hatte sie auch schon am Freitag und Montag beobachten dürfen. Sie hatte so eine Ahnung, dass es wohl um sie ging, aber bisher hatte sie keine Beweise dafür. Das änderte sich in der nächsten Sekunde gravierend.
Bettina, eine langjährige Mitarbeiterin des Verlags, breit wie hoch und stets ein bisschen zu bunt angemalt, drehte sich aus der Gruppe heraus zu ihr um. Sie kam mit diesem typischen »Ich-hatte-mal-Ballett-und-muss-jetzt-immer-so-gehen«-Watschelgang auf sie zu.
»Da ist ja unsere Diva«, verkündete sie.
Nadine wollte die Bemerkung ignorieren, aber die Stille, die sich über den Raum senkte, war nicht zu überhören. Sie blickte auf.
»Was meinst du damit?«, fragte sie mit dem Versuch, ein Höchstmaß an Souveränität durchklingen zu lassen.
»Na ja«, Bettina sah sich Beifall heischend um, »die gnädige Frau lässt Herrn Noack in der Dunkelkammer verrotten. Der Micha erzählt uns da ja reizende Geschichten.«
Irgendjemand gab ein angewidertes Glucksen von sich. Nadine wusste, dass sie die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. Sie hatte gute Lust, pampig zu werden. Aber nein, das Projekt! Das war ihre erste und, wenn die Kollegen es darauf anlegten, ihre letzte Chance dieser Größenordnung.
»Dir gefallen also meine Arbeitsmethoden nicht?«
»Langsam, Nacho«, Bettinas Tonfall wurde unangenehm ernst, »ich weiß nicht, ob du weißt, mit wem du es da zu tun hast. Wenn der Herr Noack von unserem Verlag einen schlechten Eindruck bekommt, dann taucht der hier nie wieder auf. Und dass der neue Blankett für das Hörbuchprojekt an unseren Verlag gegangen ist, meinst du, das fällt so vom Himmel?«
Das folgende Schweigen hinterließ ein elektrisches Knistern in der Luft. Einzig der Drucker ließ sich nicht stören und rumpelte weiter vor sich hin. Dass für Serafin bereits neue Verträge vorlagen, hatte sich entweder noch nicht herumgesprochen oder das Ganze war bislang nicht spruchreif. Nadine suchte den Gesichtsausdruck überlegener Professionalität für ihr Gesicht, aber es gelang ihr nur bedingt.
»Diese Vereinbarung ist im gegenseitigen Einverständnis ...«
Bettinas Lachen schepperte in ihren kopflastigen Satz und triefte vor Hohn.
»Alles klar. Der große Topspeaker lässt sich mit unserer Nacho auf eine völlig absurde Vereinbarung ein. Aber sicher doch!«
Bettina hatte die Stimme so weit erhoben, dass sich eine Bürotür öffnete. Nadines Chefin trat mit ihren laut klackenden hohen Absätzen in den Flur.
»Darf ich fragen, was hier los ist?«, fragte sie weniger interessiert als vor allem genervt. Bettina drehte sich zu ihr um.
»Unsere Nacho hält sich für etwas Besseres und glaubt, dem Herrn Noack Vorschriften machen zu dürfen.«
Dr. Niefanger zog eine Augenbraue hoch und fixierte Nadine mit ihren eisblauen Augen.
»Wie lautet Ihre Version, Frau Walters?«
Nadine spürte ihre Chance. Sie straffte sich, während der Drucker neben ihr innehielt und die Papierlampe hektisch blinkend um Aufmerksamkeit bettelte.
»Ich gebe mir alle Mühe, die Unvoreingenommenheit meiner Arbeit zu vervollkommnen.«
»Nee, is klar!«, lachte Bettina grell, dass es in ihren Ohren klingelte.
»Sie kommen jetzt lieber mal in mein Büro«, sagte Dr. Niefanger in einem Ton, der jede Widerrede im Keim erstickte. Nadine wollte noch etwas von »Papier nachlegen« faseln, aber ihre Beine waren schon auf dem Weg zur offen stehenden Bürotür, während ihre Chefin an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Sie blickte angelegentlich auf ihren Laptop. Nadine schloss leise die Tür und schritt langsam in die Mitte des Raumes.
Dr. Niefanger bot ihr keinen Sitzplatz an. Ohne aufzuschauen fragte sie: »Nun?«
»So, wie es Frau Jung darstellt, ist das völliger Unsinn.«
»Wie stellt sie es denn dar?«
Nadine setzte zu einer Antwort an, aber dann hielt sie inne. Wieso war hier auf einmal jeder gegen sie? Der Produktionsstopp war nicht ihre Schuld, bis dahin war das Projekt bestens gelaufen. Was machte sie bitte falsch?
»Sie wollte nur einen Spaß machen.«
»Ich habe niemanden lachen gesehen.«
»Es war auch nicht lustig.«
Dr. Niefanger blickte auf, ein Schmunzeln ließ ihr Gesicht für einen Moment entspannen.
»Sehen Sie sich Ihrer Aufgabe gewachsen?«, fragte sie, übergangslos wieder ernst geworden.
Nadine wusste um die falsche Wirkung von Pausen. Eine zu schnelle Antwort dagegen konnte übereilt wirken. Sie hoffte, die Mitte getroffen zu haben, als sie antwortete: »Selbstverständlich.«
»Gut«, sagte ihre Chefin.
Und dann noch einmal: »Gut.«
Nadine kannte die Bedeutung dieses einen Wortes. In dem Tonfall, in dem sie es gesagt hatte, steckten zweieinhalb Seiten fachlich fundierter Text. Plus Fußnoten.
Einen unangenehmen Moment lang war es still im Raum. Dann winkte Dr. Niefanger Richtung Tür, ohne ihre Mitarbeiterin eines weiteren Blickes zu würdigen.
Als Nadine aus dem Büro trat, war der Flur wie ausgestorben. Sie marschierte auf den Drucker zu, um das fehlende Papier einzulegen, damit es endlich weiterging. Nicht nötig. Jemand anders hatte das bereits erledigt. Aber wo war der Ausdruck des Manuskriptes? Sie suchte mit steigender Nervosität nach dem dicken Papierstoß, doch er war nirgendwo zu sehen. Vielleicht lag der Stapel auf ihrem Schreibtisch?
Sie lief mit wachsender Unruhe den Flur entlang bis zu ihrem Büro. Sie teilte sich den kleinen Raum mit Laura, der zierlichen Azubi aus Norddeutschland. Die war aber nicht da, wie überhaupt schon seit Tagen. Irgendetwas mit Husten oder Halsweh oder Heimweh. Ihr eigener Schreibtisch war leer, wenn man von den Bergen aus Zettelchen, Post-its, Stiften und Überraschungseier-Figuren absah. Kein Manuskript.
Loriot schaute verschlafen von seiner Kuscheldecke auf, zwinkerte einmal, ließ den Kopf wieder fallen.
Vielleicht waren die Seiten im Schredder gelandet? Großartig. Dann konnte sie sich noch sicherer sein, dass sie gemobbt wurde, wenn Bettinas Anmache für diese Erkenntnis nicht schon gereicht hätte. Aber warum eigentlich? Was hatte sie falsch gemacht? War sie jemandem auf die Füße getreten?
Zu dumm auch, dass der Drucker in ihrem Büro ein uraltes Teil war und ewig für ein solch umfangreiches Dokument gebraucht hätte.