Der Skorpion. Louis Weinert-Wilton
Abend war besonders unfreundlich, doch in Mrs. Toomers Eßzimmer herrschte behaglichste Stimmung. Die Hauswirtin studierte eben die Abendzeitungen, um über die Missetaten, die sich wiederum ereignet hatten, und die ihr nun der brave Sergeant Toomer nicht mehr brühwarm rapportieren konnte, auf dem laufenden zu bleiben; Alice Parker saß versonnen über einer Handarbeit, und Bessie Clayton untersuchte mit kritisch verkniffenen Augen eine Einpfundnote, an der ihr irgend etwas nicht zu gefallen schien.
»Das Gekritzel ist nicht zu lesen«, unterbrach sie endlich höchst mißmutig das Schweigen. »Die Banknote scheint längere Zeit im Wasser gelegen zu haben, und es wird uns schwerfallen, sie anzubringen. – Ich hätte dieser alten Teerjacke besser auf die Finger sehen sollen, als sie mir den Schein zusteckte. Aber ich mußte mir fortwährend nur die schreckliche Visage angucken. Der Kerl ist offenbar auf eine Erpressung aus. Er hat sich bei uns einen Brief an jemanden schreiben lassen, daß er ein Notizbuch gefunden hätte, das den andern sicher interessieren werde. Natürlich steckt da eine Lumperei dahinter. Deshalb durften wir wohl auch die Adresse nicht tippen, sondern er wollte bloß einen leeren Briefumschlag. Die Antwort will er ›an den Zimmermann Paddy‹ in eine Schenke im Pool haben …«
Obwohl Mrs. Toomer gerade die wichtige Frage erwog, zu welchem Polizeigericht sie ihre Schritte am nächsten Morgen lenken sollte, hatte sie doch auch für Bessies Bemerkung einiges Interesse übrig.
»Ja, man muß jetzt sehr vorsichtig sein«, äußerte sie mit ihrem tiefen Baß. »Als Sergeant Toomer noch Dienst tat, hat es solche Sachen wie heute nicht gegeben. Und wenn mal so was geschah, hat man die Banditen immer sofort gefaßt. Aber jetzt wird im Westen ein kostbarer Schmuck nach dem andern gestohlen, und vom Fassen ist keine Rede. – Offen gestanden habe ich von unserem neuen Chefkonstabler, von dem es hieß, daß er ein so scharfer Mann sein sollte, mehr erwartet …«
In den ernsten Tadel der enttäuschten Sergeantenwitwe klang der Türklopfer, und die Hauswirtin erhob sich. »Es wird vielleicht wegen der Zimmer unten sein«, sagte sie. »Ich habe beim Kolonialwarenhändler und im Milchgeschäft hinterlassen, wenn jemand, der in mein Haus paßt, Wohnung sucht, möge man ihn mir schicken …«
Damit machte sie sich mit wuchtigen Schritten auf den Weg, und die besorgte Bessie tuschelte ihr rasch noch ein kleines Anliegen nach.
»Bitte, liebe Mrs. Toomer, wenn es wieder eine ältere Dame sein sollte, fragen Sie sie nach ihren Leibspeisen. Bei Miß Druce hat es im ganzen Hause immer schrecklich nach altem Käse und Zwiebeln gerochen …«
Unten im Flur brannte bloß eine kleine Deckenlampe, und als die Frau die letzte Treppenstufe passierte, tat sie einen raschen Griff in eine Nische, wo der Gummiknüppel des verewigten Sergeanten seinen Ehrenplatz gefunden hatte.
»Wer ist draußen?« fragte sie dann, indem sie das fleischige Ohr lauschend an die Haustür legte, und ihr bedrohliches Organ machte eigentlich jede weitere Vorsichtsmaßnahme überflüssig.
Von draußen kam halblaut eine hastige Antwort, die Mrs. Toomer plötzlich höchst aufgeregt werden ließ.
»Wer???« flüsterte sie offenbar ungläubig zurück, aber dann flog auch schon der Gummiknüppel in die nächste Ecke, und die Frau hantierte blitzschnell an Riegel und Vorlegkette.
Über die Schwelle trat ein Mann in einem triefenden Regenmantel, und mit ihm schob sich ein patschnasser großer Hund herein.
Die Sergeantenwitwe hatte kugelrunde Augen, und um ihren herben Mund zuckte es. »Wahrhaftig …« schnappte sie freudig, kaum daß sie einen raschen Blick auf das schmale, dunkle Gesicht unter der schlappen Hutkrempe geworfen hatte. »Nein – so was … – Das hätte ich mir nie träumen lassen, Sir. – Fanny hat mir doch erst unlängst geschrieben, daß Sie …«
Der Besucher legte rasch einen Finger an den Mund, und Mrs. Toomer hätte nicht Sergeantenwitwe sein dürfen, um dieses Zeichen nicht sofort zu kapieren. Sie nickte lebhaft und riß auch schon die Tür zu den unteren Stuben einladend auf, obwohl sie sonst keinen Kaiser und keinen König in diesem Zustande in ihre peinlich sauberen Zimmer gelassen hätte.
Noch dazu mit einem pudelnassen Hund …
Die Verhandlungen unten dauerten so lange, daß die lebhafte Bessie Clayton, die immer wieder nach dem nicht sonderlich schalldichten Fußboden lauschte, bereits ungeduldig wurde.
»Nach der Stimme ist es ein Mann«, flüsterte sie der völlig teilnahmslosen Alice zu. »Vielleicht bekommen wir also diesmal einen Hausgenossen. – Wenn er nett ist, hätte ich gar nichts dagegen. Eine Bude mit Witwen, alten Jungfern und solchen, die es wahrscheinlich einmal werden, ist schrecklich langweilig.« Sie neigte wiederum für eine Weile das Ohr, dann nickte sie plötzlich befriedigt. »Ich glaube, sie sind schon einig. Mrs. Toomer schneuzt sehr heftig. Wahrscheinlich erzählt sie ihm bereits von dem verewigten Sergeanten …«
Die Hauswirtin handhabte unten ihr Taschentuch tatsächlich sehr geräuschvoll, aber es ging nicht um den verewigten Sergeanten Toomer.
»Vielleicht ist das eine Fügung Gottes«, schluckte sie. »Ich weiß ja nicht, was ich tun soll. – Und es drückt mir das Herz ab, den Jammer mit ansehen zu müssen und nicht helfen zu können.«
»Das gewisse Wort ist also noch nicht erschienen?« fragte der Besucher, der ihrem bewegten Redestrom mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war.
»Nein – das ist es ja eben. Er hat sich bis heute nicht gerührt, und sie wird mir sicher noch krank von diesem ewigen aufgeregten Warten. – Ich kann das alles nicht verstehen …«
Es währte noch eine weitere gute halbe Stunde, bis unten endlich die Tür ins Schloß fiel und die Hauswirtin mit roter Nase und zwinkernden Augen wie der im Eßzimmer auftauchte.
»Ich habe einen neuen Mieter aufgenommen«, sagte sie so beiläufig, nachdem sie sich gründlich geräuspert hatte.
»Wie sieht er aus?« erkundigte sich Bessie mit reger Wißbegierde, aber Mrs. Toomer schien die dringliche Frage überhört zu haben, weil sie eben wieder heftig in ihr Taschentuch trompetete. Aber dann gab sie plötzlich doch so etwas wie eine Antwort.
»Man darf bei diesem schrecklichen Wetter nicht die Nase vor die Tür stecken, ohne gleich etwas abzubekommen«, stellte sie zunächst mürrisch fest und fügte dann völlig geistesabwesend hinzu: »Ja – also – er ist groß – ich glaube grau und sieht aus wie ein richtiger Wolf. Und am liebsten hat er getrocknete Fische …«
»Getrocknete Fische – du guter Gott …« murmelte Bessie mit starren Augen. »Da war vielleicht die Lehrerin mit ihrem Käse und ihren Zwiebeln doch noch angenehmer …«
Eine Anfrage im Unterhause
Es war wieder einige Tage später. Das House of Commons hatte eben eine sehr eingehende Aussprache über die Aufrüstung der See-, Land- und Luftstreitkräfte abgeschlossen, als sich noch ein Mitglied erhob.
»The gallant member – der sehr tapfere Abgeordnete für Souths Down wünscht noch etwas vorzubringen«, verkündete der Sprecher.
Das Parlamentsmitglied, dem diese ehrende Anrede zukam, war ein verdienter alter Commodore, und man wußte, daß er stets dann ins Treffen geschickt wurde, wenn es um eine Sache ging, bei der es mehr auf die betreibende Persönlichkeit, als auf rednerische Wirkung ankam. Er entledigte sich seiner Aufgabe auch diesmal sehr kurz und bündig.
»Ist der Regierung bekannt«, stieß er mit seiner rauhen Seemannsstimme hervor, »daß vor einiger Zeit einem britischen Staatsangehörigen auf einem fremden Staatsgebiete eine Ausbeutungskonzession verliehen wurde, der in Anbetracht der Besonderheit und der Verwendungszwecke des betreffenden Vorkommens außerordentliche Wichtigkeit beizumessen ist? – Und gedenkt die Regierung – falls dies nicht schon geschehen sein sollte – raschestens Schritte zu unternehmen, um die wichtigen Interessen des Empires in dieser Angelegenheit zu wahren?«
Auf der Regierungsbank erhob sich sofort einer der jungen zukunftsreichen Unterstaatssekretäre und erwiderte darauf ebenso allgemein und vorsichtig:
»Die Regierung kann nur nochmals die Versicherung