Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach
Willen, hatten sie denn erwartet, die da nach dem Mauerfall in Sprechchören zu Hunderttausenden nach Deutschland einig Vaterland riefen? Brüderliche Hilfe und Unterstützung von denen, die sich mehrheitlich der Gnade des Geburts- oder Wohnortes halber schon immer auf dem eigentlichen, dem eben besseren deutschen Weg wussten? Herbeischaffung moderner Arbeitsplätze anstelle maroder DDR-Betriebe durch diejenigen, die infolge des exponentiellen Rationalisierungsschubs der Siebziger und Achtziger bis auf wenige Ausnahmen über industrielle Kapazitätsüberhänge in Größenordnungen verfügten, Kapazitätsüberhänge, die ausreichten und geradezu darauf warteten, den Bedürftigkeitsgrad der Neubundesbürger abzudecken?
Daniela, Holsteins Ehefrau, gehörte zu den vielen, die schon anfangs der neunziger Jahres aus ihren bisherigen Arbeitsverhältnissen ausgegliedert wurden. Jedoch fand sie beizeiten eine Anstellung, die ihr, wenn auch heute längst in völlig anderer Form, alsbald die Rolle des die Familie wirtschaftlich stabilisierenden Faktors zuschrieb. Ein großes Versicherungsunternehmen nahm sich ihrer Bewerbung wohlwollend an und stellte sie unbesehen ihres Diploms vorerst als Schreibkraft ein. Dank der ihr eigenen Eigenschaften überstand Daniela nicht nur die in den Folgejahren einsetzenden Umstrukturierungsmaßnahmen und Entlassungswellen im Unternehmen sondern erklomm fachlich und funktionell sogar, dies sehr zum Wohle des familiären Finanzhaushaltes, eine pekuniär recht gut ausgestattete Position.
Die mathematisch-naturwissenschaftlich Spezialschule, in welcher Holsteins Sohn Sven mit ausgezeichneten Abschlüssen sein Abitur ablegte, verlor nach der Wende nahezu gänzlich ihre bisherige Bedeutung. Eine gebotene Möglichkeit der Studienaufnahme mittels Sonderstipendium einer bundesweit agierenden Stiftung, angedacht von seiner bisherigen Lehrerschaft und von dieser bei der Stiftung beantragt, konnte Sven nicht ausschöpfen, da er, der sehr kühle, sehr nachdenkliche Kaumredner in den Augen der Bewerter den Anforderungen und Erwartungen im Kreis der vielen, viel besser als er rhetorisch und erscheinungsmäßig gestylten Mitbewerber im Rahmen der Assesmentveranstaltung in keiner Weise entsprach. So studierte Sven nach zehnmonatiger Militärzeit in der Bundeswehr, die sich gegenüber dem Militärdienst seines Vaters eher wie ein Sanatoriumsaufenthalt ausnahm, wie vorgesehen Informatik. Da er nunmehr sein Studium in eigener Regie organisierte, nicht wie einst geplant von staatlicher Fürsorge begleitet, nahm die Studienzeit nicht zehn sondern siebzehn Semester in Anspruch, was naturgemäß auf den Haushaltsetat seiner Eltern nicht unerhebliche Auswirkungen hatte. Sven arbeitet heute, nach dem Platzen der Hich-Tech-Euphorie, als Systementwickler einem Werk bei Frankfurt, Frankfurt am Main versteht sich. Keiner seiner ehemaligen Mitschüler der Spezialschule, die mathematisch-naturwissenschaftliche Elite seines Jahrgangs in der Stadt, beschritt den einstmals vorgedachten beruflichen Weg, einer arbeitet als Streetworker, einer als Diskjockey, einer als Versicherungsvertreter, zwei sind seit langem arbeitslose Sozialhilfeempfänger.
Maria, Holsteins eher zu den angenehmen Dingen des Lebens tendierende Tochter, legte trotz ziemlicher Bedenken und allerhöchster mathematischer Unterstützung Holsteins ein überdurchschnittlich gutes Abitur ab. Exakt in der Schule, in der Holstein dies sechsundzwanzig Jahre vorher tat. Sie studierte anschließend sieben Jahre Jura, legte mit Bravour das erste und danach das zweite Staatsexamen ab, war danach zwei Jahre auf Jobsuche und arbeitet heute als selbständige Anwältin im Sächsischen.
Holstein selbst verblieb noch bis 1992 im neu geschaffenen Regierungspräsidium. Im Frühjahr dieses Jahres, sich schon auf der sicheren Seite wähnend, erfolgte seine fristlose Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen einstiger inoffiziellen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Der ihm die Entlassung Aussprechende war das ehemalige Mitglied der SED-Hochschulparteileitung Zweiniger, zuständig damals für Agitation und Propaganda, und jetziger Abteilungsleiter des Bereiches „Wirtschaft“ im Regierungspräsidium, der Holstein zu Studienzeiten einmal mangelndes politisches Bewusstsein vorwarf. Jetzt allerdings auch gewendet als CDU-Mitglied.
Gert Holstein durchlief die Tretmühlen des kapitalistischen Systems bis zur Neige. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, Fortbildung, Kurzbeschäftigungen, Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen und einer sehr schnell wieder aufgegebenen Selbständigkeit gelang es ihm erst zu Beginn des Jahres 1997 wieder, nachhaltig beruflich Fuß zu fassen. Für die nächsten neun Jahre war er als EDV-Techniker und –Ausbilder in zwei bundesweit agierenden Firmen tätig. So lernte er im Schnelldurchlauf kennen, was ihm die berühmt-berüchtigten 40 vorherigen Jahre verborgen blieb: den Westen Deutschlands.
Im Alter von 59 Jahren wurde Holstein erneut arbeitslos und verblieb dies bis kurz vor Vollendung seines 62. Lebensjahres. Den Absturz nach Hartz-Vier entging er nur durch den vorzeitigen und rentenpunktreduzierten Eintritt in den Vorruhestand.
Bleibt uns noch, über Vater und Mutter Holstein zu berichten. Vater Holstein erreichte, was er sich anfänglich scherzhaft und sanft belächelt, später allen Ernstes vorgenommen hatte: Er erlebte die Jahrtausendwende. Da war er 86 Jahre alt. Die neue, nachwendige Zeit war ihm jedoch ein Greuel, obgleich er ausgestattet mit einer üppigen Rente darin sehr komfortabel leben konnte. Aber nicht der schnöde Mammon war sein stetes Lebensziel, er hätte auch mit bedeutend weniger auskommen können. Es war das, wie er meinte, wiederholte Versagen der Arbeiterklasse, das ihm schwer im Magen lag. Vater Holstein starb nach einem schweren Schlaganfall kurz vor Weihnachten im Jahr 2000.
Mutter Holstein lebt noch immer. Sie bewohnt eine schmucke, sehr sonnige Zweiraumwohnung in einem dresdener Vorort und erfreut sich, abgesehen vom altersbedingten Zipperlein, einer robusten Gesundheit. Es steht zu erwarten, dass sie auch ihren 90. Geburtstag im Jahr 2016 im Kreise ihrer Lieben verbringen wird.
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