Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski


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Anarchisten, Atheisten und Revolutionäre eigentlich recht wenig; wir beobachten sie, und ihr Tun und Treiben ist uns bekannt. Es gibt unter ihnen jedoch einige, nicht viele Menschen, von besonderer Art, die glauben an Gott und sind Christen, zugleich aber auch Sozialisten. Sehen Sie, die fürchten wir am meisten; die sind gefährlich! Der christliche Sozialist ist schrecklicher als der atheistische!‹ Diese Worte frappierten mich schon damals. Jetzt, meine Herren, sind sie mir plötzlich, ich weiß nicht wieso, wieder eingefallen...«

      »Soll das heißen, daß Sie sie auf uns anwenden und in uns Sozialisten sehen?« fragte Vater Paissi geradezu.

      Ehe ihm Pjotr Alexandrowitsch antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Dmitri Fjodorowitsch trat ein. Man schien ihn nicht mehr erwartet zu haben; sein Erscheinen rief im ersten Augenblick sogar eine gewisse Verwunderung hervor.

      1 Ultramontanismus – eine Ansicht der katholischen Kirche, daß dem Papst die gesamte geistliche und weltliche Macht gebührt, analog den Bischöfen in ihrem Sprengel. So hat nach dieser, nie verworfenen Lehre, beispielsweise der Fuldaer Bischof eigentlich den hessischen Ministerpräsidenten zu ernennen!

      2 Gregor VII – (Hildebrand), als Papst 1084 abgesetzt, † 1085, führte das Papsttum auf den Höhepunkt seiner Macht, provozierte den Investiturstreit (der I. ging nur vordergründig um die Einsetzung der Bischöfe, Ursache war das Bestreben, die durch »Schenkungen«, Urkundenfälschungen und Betrug erworbenen oder angemaßten Besitztümer der Catholica zum immerwährenden Eigentum zu machen), 1077 unterwarf sich Heinrich IV in Canossa, setzte aber 1080 einen Gegenpapst ein.

      6. Wozu lebt ein solcher Mensch?

      Dmitri Fjodorowitsch, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, mittelgroß, mit sympathischem Gesicht, sah wesentlich älter aus, als er war. Er hatte einen muskulösen Körper und besaß offenbar große Kräfte. Trotzdem wirkte sein Gesicht kränklich, die Backen waren eingefallen und zeigten eine ungesunde gelbliche Färbung. Seine Augen, ziemlich groß und dunkel und leicht vorstehend, hatten einen festen, dabei eigentümlich unbestimmten Blick. Selbst wenn er in lebhafter Erregung sprach, hatte man den Eindruck, als gehorche der Blick seiner Stimmung nicht, als drücke er etwas anderes, nicht zur Situation Passendes aus. »Schwer zu sagen, woran er eigentlich denkt«, sagten mitunter die Leute, die mit ihm gesprochen hatten. Manche, die in seinem Blick etwas Melancholisches, Düsteres sahen, waren überrascht, wenn er plötzlich auflachte; denn dieses Lachen, das von heiteren, lustigen Gedanken zeugte, erschien gerade, wenn er so düster aussah. Übrigens war ein gewisses krankhaftes Aussehen seines Gesichtes begreiflich; alle wußten oder hatten wenigstens davon reden hören, daß er in letzter Zeit ein überaus wildes, ausschweifendes Leben geführt hatte. Ebenso bekannt war die Heftigkeit, zu der er sich in dem Geldstreit mit seinem Vater hatte hinreißen lassen. In der Stadt waren darüber wilde Gerüchte im Umlauf. Allerdings war er schon von Natur reizbar, »ein impulsiver, nicht normaler Geist«, wie ihn unser Friedensrichter Semjon Iwanowitsch Katschalnikow in einer Gesellschaft treffend charakterisierte. Tadellos und elegant gekleidet trat er ein; im zugeknöpften Oberrock, mit schwarzen Handschuhen, den Zylinder in der Hand. Als unlängst verabschiedeter Offizier trug er nur einen Schnurrbart. Sein kurzgeschnittenes dunkelblondes Haar war an den Schläfen nach vorn gekämmt. Sein Gang war fest, weit ausgreifend, wie beim Marschieren mit der Truppe. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, ließ den Blick über die Anwesenden gleiten und ging dann direkt auf den Starez zu, in dem er den Hausherrn erkannt hatte. Nachdem er sich tief verbeugt hatte, bat er um den Segen. Der Starez erhob sich und segnete ihn. Dmitri Fjodorowitsch küßte ihm respektvoll die Hand und sagte dann erregt, fast heftig: »Verzeihen Sie großmütig, daß ich so lange auf mich warten ließ. Der Diener Smerdjakow, den mein Vater zu mir schickte, antwortete auf meine Frage nach der Zeit zweimal auf das bestimmteste, die Zusammenkunft finde um ein Uhr statt. Jetzt höre ich auf einmal ...«

      »Beunruhigen Sie sich nicht!« unterbrach ihn der Starez. »Das macht nichts. Sie haben sich ein wenig verspätet, das ist kein Unglück ...«

      »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar und konnte auch von Ihrer Güte nichts anderes erwarten.«

      Nach diesen kurz herausgestoßenen Worten verbeugte sich Dmitri Fjodorowitsch noch einmal vor dem Starez und wandte sich dann zum Vater, um auch vor ihm sich ebenso respektvoll und tief zu verbeugen. Es war klar, daß er diese Verbeugung von vornherein beabsichtigt und sie aufrichtig gemeint hatte; er hielt es einfach für seine Pflicht, auf diese Weise seinen Respekt und seine guten Absichten auszudrücken. Fjodor Pawlowitsch machte diese Überraschung verlegen, doch fand er sich sofort auf seine Art wieder zurecht: Er sprang von seinem Lehnstuhl auf und verbeugte sich ebenso tief vor seinem Sohn. Sein Gesicht wurde plötzlich vielsagend ernst, was außerordentlich böse wirkte. Darauf begrüßte Dmitri Fjodorowitsch alle anderen Anwesenden mit einer allgemeinen Verbeugung, ging mit seinen großen, festen Schritten zum Fenster und setzte sich dort auf den einzigen noch freigebliebenen Stuhl, nicht weit von Vater Paissi. Er saß mit vorgebeugtem Oberkörper, bereit, die Fortsetzung des durch ihn unterbrochenen Gespräches mit anzuhören.

      Die Störung hatte kaum zwei Minuten gewährt, und man konnte nicht umhin, das Gespräch wiederaufzunehmen. Doch Pjotr Alexandrowitsch hielt es jetzt nicht für nötig, auf Vater Paissis nachdrückliche, beinahe gereizte Frage zu antworten.

      »Gestatten Sie mir, die weitere Erörterung dieses Themas abzulehnen«, sagte er mit einer gewissen weltmännischen Lässigkeit. »Das Thema ist ohnehin besonders schwierig. Sehen Sie, Iwan Fjodorowitsch lächelt. Offenbar hat er bei dieser Gelegenheit etwas Interessantes vorzubringen. Fragen Sie lieber ihn!«

      »Ich habe nichts Besonders zu sagen«, antwortete Iwan Fjodorowitsch. »Ich wollte nur die kurze Bemerkung machen, daß der westeuropäische Liberalismus und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus seit längerer Zeit die Endziele des Sozialismus des öfteren mit denen des Christentums verwechselt. Dieser Fehlschluß ist allerdings charakteristisch. Übrigens schienen nicht nur die Liberalen und die Dilettanten den Sozialismus mit dem Christentum zu verwechseln, sondern vielfach auch die Gendarmen, natürlich die ausländischen. Ihr Pariser Geschichtchen ist sehr bezeichnend, Pjotr Alexandrowitsch.«

      »Ich bitte nochmals um die Erlaubnis, dieses Thema verlassen zu dürfen«, wiederholte Pjotr Alexandrowitsch. »Statt dessen will ich Ihnen ein anderes hochinteressantes und charakteristisches Geschichtchen über Iwan Fjodorowitsch selbst erzählen meine Herren. Vor fünf Tagen erklärte er bei einem Disput in einer hiesigen, vorwiegend aus Damen bestehenden Gesellschaft nachdrücklich, es gebe auf der ganzen Erde nichts, was die Menschen zwingen könne, ihresgleichen zu lieben. Ein Naturgesetz, das dem Menschen befehle, die Menschheit zu lieben, existiere überhaupt nicht. Wenn es auf Erden Liebe gebe oder gegeben habe, so sei das nicht die Folge eines Naturgesetzes, sondern lediglich des Umstandes, daß die Menschen an die Unsterblichkeit glauben. Iwan Fjodorowitsch fügte in Klammern hinzu, eben darin bestehe das ganze Naturgesetz, so daß die Menschheit, raubt man ihr den Glauben an die Unsterblichkeit, sofort die Liebe und jede lebendige Kraft zur Fortführung des irdischen Lebens verliere. Ja noch mehr, es gebe dann nichts Unsittliches mehr; alles sei dann erlaubt, sogar die Menschenfresserei. Aber auch das genügte ihm nicht; er schloß mit der Behauptung, für jede Privatperson, die weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaube, zum Beispiel für uns jetzt, verwandle sich das sittliche Naturgesetz sofort in das Gegenteil. Der Egoismus, gesteigert bis zum Verbrechen, müsse dem Menschen dann erlaubt und sogar als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden. Aus einem solchen Paradoxon können Sie, meine Herren, auf das übrige schließen, was dieser exzentrische Freund von Paradoxen, unser lieber Iwan Fjodorowitsch, zu proklamieren beliebt.«

      »Erlauben Sie«, rief plötzlich Dmitri Fjodorowitsch, »ich möchte doch feststellen, ob ich mich nicht verhört habe! ›Das Verbrechen muß erlaubt sein und für jeden Atheisten sogar als unvermeidlicher, vernünftigster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden.‹ War es nicht so?«

      »Genauso«, sagte Vater Paissi.

      »Das will ich mir merken.«

      Nach diesen Worten verstummte Dmitri Fjodorowitsch ebenso plötzlich, wie er sich vorher ins


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