Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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richtig interpretiert, wusste er doch, dass er nicht persönlich, sondern die von ihm vertretene Institution gemeint war, die sich diesen Leitsatz zwar gleichfalls auf ihr Fähnchen geschrieben hatte, sich selbst damit bei der praktischen Umsetzung im Alltag aber allzu oft schwertat, obwohl sie es tagtäglich in Predigten von ihren Gläubigen forderte.

      „Ich weiß genau, was du meinst, Claude, worauf du anspielst.“ Thorwald wusste um das Dilemma, die Schwächen seiner Mitmenschen und vieler seiner Vorgesetzten. „Aus meiner Erfahrung heraus kann ich dir allerdings nur immer wieder raten: Lege die Latte nicht zu hoch, nicht für dich und nicht für andere, ansonsten wirst du entweder verrückt oder du stumpfst total ab. Verlange nicht zu viel von den Menschen, für derartig hochgesteckte Maximen fehlt es ihnen schlichtweg an Verständnis, dazu sind sie - entschuldige, wenn ich dies in dieser Deutlichkeit sage - mehrheitlich geistig ganz einfach zu beschränkt. Das ist nicht geschimpft, das ist eine Tatsache, auch wenn ich dies als Geistlicher vielleicht nicht sagen dürfte.“

      „Du hast ja recht, aber irgendwie regt es mich trotzdem hin und wieder auf, obwohl wir dies schon zigmal durchgekaut haben.“ In Claudes Erregung mischte sich von Wut getränkte Resignation, der er jedoch nicht gestattete, nicht gestatten wollte, dass sie sich seiner bemächtigen könne, denn dies, dessen war er sich bewusst und spürte er, brächte ihn an einen Wendepunkt, von dem aus es nur noch bergabwärts gehen konnte, und dazu war er schlichtweg nicht bereit, ebenso wenig wie Philipp, der seinem Bruder moralische Rückendeckung gab.

      „Wir haben alle unsere Durchhänger, erst vor ein paar Wochen habe ich mich gefragt, wozu ich das alles mache, warum ich mich eigentlich um das Wohl anderer kümmere, es wäre für mich doch viel einfacher, wenn ich mich nur um meine eigenen Angelegenheiten kümmern würde. Doch wenn du ein moralisches, ein wirkliches moralisches Gewissen hast, dann kannst du nicht aus deiner Haut, so sehr dich dies mitunter belasten mag, so oft du der Resignation nahe sein magst. Du kannst dies nicht einfach abstreifen, ablegen wie ein Kleidungsstück, es ist ein Stück von dir selbst, das bist du, da kann dir niemand helfen. Und im Grunde genommen willst du das auch gar nicht, nur muss du dir darüber im Klaren sein, dass du nur wenig, ganz wenig bewegen, bewirken kannst, die Welt im Ganzen wirst du voraussichtlich genauso wenig verändern wie dies Julius vermag oder ich dies kann. Die kleinen Schritte sind es, die uns moralisch immer wieder aufrichten, uns aufs Neue motivieren. Oder etwa nicht? Dass soll nicht heißen, dass man das große Ziel aus den Augen verliert, ganz im Gegenteil, nur muss man die Bescheidenheit seiner Mittel realistisch einzuschätzen lernen!“

      Philipps Analyse kam einem Schlusswort gleich, das Gespräch mündete in ruhigere Bahnen ein, frischte Erinnerungen an Thorwalds Jugend und dessen beinahe brüderliche Beziehung zu Claudes und Philipps Vater auf, mit dem der Geistliche zur Schule gegangen war. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf sie sich vorübergehend aus den Augen verloren hatten, waren sich die beiden jungen Männer wieder über den Weg gelaufen und hatten fortan ihren Kampf gegen Ungerechtigkeit und Intoleranz gemeinsam geführt, wenn auch jeder auf seine eigene Art und Weise. Doch mindestens einmal in der Woche war Thorwald, der unmittelbar nach dem Krieg sein Theologiestudium aufgenommen hatte, zu ihnen zu Besuch gekommen, hatte sich mit seinem ehemaligen Klassenkameraden den Kopf darüber heiß diskutiert, was sie tun könnten, um für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt zu sorgen. Jahre später hatten diese Gespräche dann seinen Bruder und ihn von klein auf geprägt, ihnen gleichsam den Pfad ins Leben gewiesen, den sie bis heute nicht bereit waren zu verlassen. Aus diesen frühesten Kindheitstagen rührte auch die ersatzväterliche Beziehung zwischen ihnen her, jenes tiefverwurzelte Vertrauensverhältnis. Aber nicht nur derart ernste, sachliche Angelegenheiten und Überlegungen hatte sie in der Vergangenheit zusammengeschweißt, regelmäßig hatten die Duchamps zusammen mit ihrem Familienfreund Ausflüge unternommen, waren gemeinsam in Museen oder Ausstellungen gegangen, ab und an waren sie sogar gemeinsam in Urlaub gefahren. So wurde Julius für Philipp und Claude zum zweiten Vater, der ihnen dann auch die nötige Stütze war, als ihr Vater verschied.

      Wie bei fast all ihren Gesprächen, verließen sie das Terrain der seichten Konversation auch bei diesem Gespräch nach nicht allzu langer Zeit wieder und kamen, geradezu zwangsweise, erneut auf heiklere Themen zu sprechen, zu denen unter anderem ein Bauskandal in Thorwalds Gemeinde zählte, in den auch die Gemeindeverwaltung verstrickt war, die sich mit derartiger Unverfrorenheit über Rechtsverordnungen und Verträge hinwegsetzte, dass es diesmal Thorwald war, der sich ereiferte: „Ich kann euch nur sagen, wenn ich all die Gemeinderäte Sonntag für Sonntag bei mir in der Kirche sitzen sehe, wie sie frömmelnd die Unschuldsengel spielen, da wird mir schlecht. Denn kaum sind sie zur Kirchentür hinaus, setzen sie ihre Schweinereien fort, diese Heuchler. Spielen sich auf wie kleine Feudalherren, die mit ihren Mitbürgern umgehen können wie es ihnen beliebt, dabei sind sie lediglich deren gewählte Vertreter, die die Interessen ihrer Wähler zu vertreten haben, nicht ihre eigenen. Und weist man sie darauf hin, so schämen sie sich nicht einmal dafür, im Gegenteil, oft beschimpfen sie dich, dann bis du der Buhmann. Aber eben dies ist ja gegenwärtig eines unserer Grundübel, niemand schämt sich mehr für etwas, jedem wird heute fast alles nachgesehen, verziehen. Ganz gleich, was er auch angestellt hat, irgendeine fadenscheinige Entschuldigung findet sich immer, nur auf dem kleinen Mann wird rumgetrampelt. Klaut ein Arbeitsloser oder ein altes Mütterlein aus schierer wirtschaftlicher Not eine Kleinigkeit, dann ist die Justiz schnell herbei, fährt hingegen ein Politiker im Suff jemanden tot, so wird seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt, wenn er nicht gleich ganz freigesprochen wird, seiner gesellschaftlichen Position wegen, wie es dann meist so schön heißt. Oder wird einer der noblen Herren der Korruption oder des Amtsmissbrauches überführt, na gut, dann verschwindet er halt vorübergehend von der Bildfläche, wird aus der Schusslinie genommen, spätestens zwei, drei Jahre später taucht er dann mit neuem Glorienschein wieder auf und tut so, als sei nie etwas passiert. Und was mich dabei am meisten fasziniert, ist die Tatsache, dass alle vergessen zu haben scheinen, dass er Dreck am Stecken hat. Ich bin nicht nachtragend, ich bin sehr wohl für Verzeihen und Vergeben, doch dann bitte schön allen gegenüber in gleichem Maße. Ich allerdings würde mich zunächst einmal in Grund und Boden schämen, würde ich eines derartigen Vergehens überführt, doch davon ist in unseren Tagen kaum noch irgendwo etwas zu spüren. Scham hat nichts mit Erniedrigung zu tun, ist keine Schwäche, im Gegenteil, wer sich noch schämen kann, beweist, dass er bereut, sich seiner Schuld bewusst ist, und dies ist schließlich die Voraussetzung, wenn ich mich, mein Verhalten ändern will. Scham ist ein Zeichen der Stärke, der charakterlichen Stärke, und daran mangelt es unserer Gesellschaft ganz gewaltig!“

      Wie mit einem Brenneisen gebrannt hatten sich diese Worte damals in Claudes Bewusstsein eingeprägt, und mehr oder weniger tagtäglich fand er sie aufs Neue bestätigt, wann immer er die Zeitung aufschlug, Nachrichten sah, las oder hörte. Es war wirklich erstaunlich, oder besser beängstigend, mit welcher Dreistigkeit und Schamlosigkeit beispielsweise die gewählten Vertreter des Volkes einen oftmals zur Weißglut treiben konnten, diese ihre Bürger belogen, sie für dumm zu verkauften versuchten. Doch brauchten sie sich dann andererseits nicht zu wundern, wenn das Volk Politikverdrossenheit zeigt, den Staat seinerseits zu hintergehen versucht, wo es nur kann. Wer Vorbildfunktion innehat und dieser nicht gerecht wird, darf nicht erstaunt sein, dass seinen leeren Appellen nicht Folge geleistet wird.

      „In wenigen Minuten erreichen wir Freiburg Hauptbahnhof. Dort haben Sie Anschluss an Intercity...“ Die von unregelmäßigem Knacken zerhackte Lautsprecherdurchsage holt Claude zurück in die Gegenwart. Der Zug rattert mittlerweile bereits durch die Vor-orte der badischen Stadt, die ihn, wie bei den allermeisten seiner vorherigen Besuche, mit Sonnenschein empfängt. Und während sich das Tempo allmählich verringert, die sich in Richtung Ausstieg begebenden Fahrgäste bei der Einfahrt auf das Bahnhofsgelände durch den wiederholten Gleiswechsel im Gang hin und her geschaukelt werden, packt Claude seine paar in der Ablage über ihm verstauten Sachen zusammen und tritt sodann aus dem Abteil auf den Gang hinaus. Mit einem letzten sachten Rucken kommt der Zug zum Stehen, der Bahnsteiglautsprecher verkündet dessen Ankunft und gibt diverse Anschlusszüge auf den Nachbargleisen durch. Ein lauer Frühlingswind streicht den Bahnsteig entlang, der von einem quirligen Menschengeflecht belebt ist. Ein suchender Blick nach rechts, dann nach links - noch ist Thorwald in dem Gewirr und Gewusel der eilends ihren Anschlusszügen Zustrebenden und der sich gemächlich gen Ausgang Orientierenden nicht


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