Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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      Die wieder einkehrende Stille der Wohnung, des Hauses drückt lähmend auf die Atmosphäre, in der Zwielicht die Akzente setzt. Ein Blick zurück über die Schulter, dorthin, woher er kam - er, der sucht und nicht findet. „Philipp?“ Ein Anflug von Ärger schwingt in der vor ungewisser Erregung leicht zitternden Stimme mit. Den Blick nach vorne gerichtet: „Philipp? Hei Junge, bist du da?“ Doch auch durch die halb geöffnete Tür am Ende des Wohnungsflurs, hinter der allem Anschein nach das Wohnzimmer liegt, dringt kein Laut. Die Stille wird auf unbehagliche Art und Weise greifbar.

      Vier Meter bis zum Ende des Ganges. Sekunden, in denen Gedankenfetzen Revue passieren...

      Der Anruf vor einer Woche, nachdem man fast ein halbes Jahr nichts mehr voneinander gehört hatte. Kurz nach Philipps Umzug hierher musste dies gewesen sein. Er hatte ihm damals telefonisch die neue Adresse durchgegeben und ihm vorsorglich schon einmal - da er sich selbst und seinen Bruder gut genug kannte - frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr gewünscht. Anfang Oktober schien dies zwar ein bisschen verrückt, wie sich herausstellte, war dies jedoch ganz berechtigt gewesen, denn die seinem Bruder zugesandte Glückwunschkarte blieb unbeantwortet. So war er nun einmal! Böse konnte man ihm deswegen nicht sein, höchstens ab und an ein wenig traurig darüber, dass er über seiner Arbeit alles und jeden vergessen konnte. Und dann auf einmal dieser Anruf: hastig, nervös, konfus - so gar nicht seine Art. Er stecke da in etwas drin, bei dem er nicht wisse, wohin das Schiff steuere, wie er den Absprung schaffen könne, so er denn wolle. Was er gesagt hatte klang verworren, unklar, so als überstürzten sich seine Gedanken. Oder war es Angst, Panik? Ob er Zeit habe zu kommen, er wäre auf etwas gestoßen, dessentwegen er gerne mit ihm reden würde. Das Telefonat hatte den Angerufenen zutiefst beunruhigt. Der erste Weg am nächsten Tag hatte ihn ins Büro der Airline geführt. Mit dem Ticket in der Hand hatte er noch rasch einige Dinge zum Abschluss gebracht, die keinen Aufschub, keine Verzögerung duldeten. Die eine Woche an Zeit, die er sich dafür als Vorgabe gesteckt hatte, war - wie sich herausstellte - knapp bemessen, so dass manches letztendlich doch liegen blieb. In der Eile hatte er dann fast noch vergessen den Schlüssel einzustecken, den ihm Philipp kurz nach seinem Einzug in die neue Wohnung geschickt hatte. Der Taxifahrer musste deswegen noch einmal umkehren, was dazu führte, dass er seinen Flug nur um Haaresbreite nicht verpasste. Philipp hatte er während der ganzen Woche nicht persönlich erreicht, am anderen Ende der Leitung gab stets der automatische Anrufbeantworter seinen eintönigen Sermon von sich. Und da sein Klingeln an der Wohnungstür dann ebenfalls ungehört verhallte, gratulierte er sich im Nachhinein noch einmal dafür, dass er sich trotz der dadurch verursachten Hektik vor dem Abflug dazu entschlossen hatte umzukehren, um den Schlüssel mitzunehmen.

      Schon der erste Blick durch die Wohnzimmertür macht klar, warum niemand am Flughafen wartete, das Läuten an der Wohnungstür ohne Gegenreaktion blieb. Quer im Raum, die Füße in Richtung Flurtür, Kopf und linker Arm in Richtung des großen Eckfensters gestreckt, den rechten Arm leicht seitlich abgespreizt, liegt der überraschend wuchtig wirkende Körper desjenigen, den der Herbeigeeilte zu treffen sich angeschickt hat. Ganz offensichtlich zu spät. Das durch die gesperrten Rouleaus einsickernde Licht hüllt den Daliegenden einem hauchdünnen, durchscheinenden Leichentuch gleich ein, schmiegt sich passgenau um die verrenkten Körperkonturen, an denen Claude - aus welchem Grund auch immer - der breite geflochtene Gürtel aus feinstem Antilopenleder ins Auge sticht. Ein Andenken an Tansania, dem vor Schreck Wortlos-Gewordenen bestens bekannt. Fragen, Schreien, dies erkennt er, sind ebenso sinnlos wie fehl am Platz. Drohend dunkel hebt sich der Blutfleck vom hellen Teppichboden ab, macht unmissverständlich klar, dass hier, an dieser Stelle das Leben eines Menschen zu Ende gegangen ist, auf brutale, gnadenlose Art und Weise, wie das klaffende, von blutverschmierten Haaren umkräuselte Loch am Hinterkopf des Gefällten begreifbar zu machen versucht.

      Begreifbar zu machen, was nicht begriffen werden kann, jetzt nicht, vielleicht, ja wahrscheinlich nie.

      Gleich einem unvermittelt von seinen Lebensadern abgeschnittenen Baum muss er gestürzt sein, der Aufprall des Gesichts nur unzureichend vom Bodenbelag abgefedert. ‚Sicherlich hat er sich das Nasenbein gebrochen', durchfährt es den mittlerweile neben der Leiche Kauernden. ‚Komisch, was einem in solch einer Situation so alles durch den Kopf geht. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielt.' Extremsituationen fördern allerdings häufig die skurrilsten, abwegigsten, sinnlosesten Gedanken und Fragen zutage, wie er aus oft gemachter Erfahrung nur allzu gut weiß.

      Hilfe kommt zu spät, was bleibt ist der Versuch, möglichst keine Spuren - so vorhanden - zu verwischen. Krimis im Fernsehen und als Lektüre haben genügend Lehrbeispiele gegeben, Verhaltensregeln für den Notfall - von dem man doch glaubt, er werde nie eintreten - erlernen lassen. Das Telefon. Nein, besser nicht, auch da könnten ja Spuren dran sein, Lieber vom Nachbarn aus anrufen. Die wenigen Meter bis zur Wohnungstür gleichen einer Ewigkeit, dem Rückzug aus einer Realität, die zu akzeptieren man nicht bereit ist. Stechender Schmerz, der im Kehlbereich beginnt und zunehmend auf die Magengegend zielt, trocknet die Kehle aus, hindert die aus dem Brustbereich aufsteigende Beklemmung daran, sich Luft zu verschaffen. Eine Frage, bestehend aus einem einzigen, oftmals im Leben unbeantwortet gebliebenen und bleibenden Wort meißelt sich ins Gehirn: Warum?

      Das Antippen der Klingeltaste erfolgt mechanisch, fast willenlos. Das Treppenhaus wird zum Inbegriff von Leere und Leblosigkeit. Ob sich ein Auge, den Unbekannten musternd, an den Spion drückt? Kann man nicht öffnen, will man nicht öffnen? Drei Wohnungen, dreimal das gleiche Resultat. Das Warten auf den Fahrstuhl wird zur Marter, dessen Tür schließlich hastiger als sonst aufgerissen, der Knopf, der den Weg nach unten programmiert, gereizt gewählt. Die Telefonzelle ein Stück die Straße hinunter ist seit der Anfahrt in Erinnerung geblieben, wird zum Notruf, zum Ruf aus der Not. Ruhiger als erwartet gibt die Stimme die Tat und den Ort des Geschehenen durch den Draht. Die Klarheit des Denkens kehrt allmählich zurück, nüchternes Analysieren tritt an die Stelle der noch vor wenigen Momenten dominierenden emotionalen Verworrenheit. Die Umklammerung der Kehle löst sich, mehrmaliges tiefes Durchatmen befreit Geist und Körper von lähmender Resignation und Trauer. Letztere zieht sich für den Augenblick tief in einen Winkel des Herzens zurück, aus dem sie erst entlassen werden wird, wenn die Zeit dafür reif ist.

      11:21 Uhr

      „Sie haben den Toten gefunden?“

      „Ja.“

      „Wie sind Sie denn in die Wohnung gekommen? Kennen Sie den Toten?“

      „Ja.“ Die erste Frage Hauptkommissar Krügers bleibt unbeantwortet.

      „In welcher Beziehung stehen...“, ein Moment des Zögerns, „...standen Sie denn zu ihm?“

      „Er...“

      „Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.“

      Es mögen nur drei, vier Sekunden sein bis zur Beantwortung dieser Frage, doch macht sich sichtlich Nervosität im Gesicht des Kriminalbeamten breit, sein rechter Arm hebt sich, die rechte Hand wird, eine Hohlkehle bildend, dem Befragten entgegengestreckt, als wolle man ihm darin die Antwort präsentieren. „Nun? Haben Sie meine Frage nicht verstanden?“, kommt Krüger dem Antworten-Wollenden mit zur Seite geneigtem Kopf und hochgezogenen Augenbrauen zuvor.

      „Duchamp. Claude Duchamp.“

      „Duchamp? Aber...“ Ein Blick zurück, dorthin, wo die Eingangstür liegt, neben der außen das Namensschild des Wohnungsinhabers angebracht ist, an das sich Krüger in diesem Augenblick erinnert.

      „Er...“, der unkonzentrierte Blick streift über den im Zimmer Liegenden, bleibt an dem dicken Kreidestrich hängen, der dem Dahingerafften Grenzen setzt, räumliche wie zeitliche, der das Unbegreifliche in Form eines einzigen Striches umreißt, „...er war mein Bruder.“

      Verlegenheit. „Hm, ach so.“ Floskelhaft: „Mein herzliches Beileid.“ Krügers Verdutztheit angesichts der Namensnennung löst sich. Neue Fragen liegen parat, wie Pfeile, zum Abschuss fein säuberlich aufgereiht. „Können Sie mir trotzdem ein paar Fragen beantworten, es wäre wichtig.“ Ein kurzes, wortloses Nicken


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