Changerider. Philipp Depiereux
Joachim Schoss legt eine beachtliche Karriere hin: Nach seinem Betriebswirtschaftsstudium startet der 1963 in Essen Geborene zunächst als Angestellter bei einer Unternehmensberatung. Dort hält es den Betriebswirt allerdings nicht lange. Mit 27 Jahren gründet er die TellSell Consulting GmbH, mit 29 Jahren das Callcenter Telcare, mit 34 möchte er verkaufen. Er lernt Ross Perot kennen, der ihn und seinen Geschäftspartner Arndt Kwiatkoswki 1997 in die USA einlädt, um beide von Perot Systems als Käufer zu überzeugen. Ein Glücksfall für Schoss und Kwiatkoswki, dort nämlich lernen sie das Konzept der Online-Marktplätze kennen. Bereits auf dem Rückflug von den USA nach Deutschland kreieren sie die Scout24-Idee.
Joachim Schoss gründet 2004 das internationale Projekt MyHandicap und engagiert sich seitdem für ein möglichst selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung, vorzugsweise inmitten der Gesellschaft. Um dieses Engagement verstehen zu können, muss man einen Blick auf sein Leben werfen – was sich in zwei Hälften teilt: Das Leben vor seinem schweren Motorradunfall und das Leben danach. „Ich habe bis zu meinem Unfall die Attitüde gehabt: failure is not an option. Taucht ein Problem auf, musst du einfach nur deine Energie erhöhen. Dann wird es schon gut gehen. Hat eigentlich auch ganz gut funktioniert.“ Bis zum November 2002. Schoss ist mit einem Freund in Südafrika im Urlaub. Am letzten Tag ihrer Motorradtour hat er einen Unfall mit einem betrunkenen Autofahrer: Beim Überholmanöver übersieht er den entgegenkommenden Schoss auf seinem Motorrad. Mit verheerenden Folgen, der Essener verliert sein rechtes Bein und seinen rechten Arm.
“Der Unfall selbst hat nicht so viel Auswirkung auf mein Leben gehabt wie mein Nahtoderlebnis“
Es beginnt sein Kampf auf Leben und Tod. „Die Ärzte hatten mich aufgegeben, ich war auf dem Weg zur anderen Seite. In diesen letzten Minuten fragst du dich nicht nach deinem Kontostand oder klopfst dir auf die Schulter für deine produzierten Unternehmenswerte – übrigens Dinge, mit denen ich mich klassischer Weise vor meinem Unfall positioniert habe. Die Frage am Ende des Lebens ist, habe ich genug geliebt? Wie waren meine Beziehungen zu den mir nahestehenden Menschen? War ich ein guter Vater? Ein guter Partner? Ein guter Freund? Ein guter Bruder? Und auch, ein guter Chef, ein guter Kollege? Wie habe ich mich im Einzelnen gegenüber meiner Umwelt verhalten? Dieses Nahtoderlebnis und die Erkenntnis daraus hat mein Leben mehr verändert als die Tatsache, dass ich jetzt mit einem Bein und einem Arm rumlaufe. Der Unfall selbst hat nicht so viel Auswirkung auf mein Leben gehabt wie mein Nahtoderlebnis.“
Als guter Unternehmer hatte Schoss vorgesorgt und einen Vertreter für den Fall der Fälle benannt. Der handelt und verkauft auch ein Jahr nach seinem Unfall seine Scout24-Anteile an die Deutsche Telekom. Geld, was Schoss nicht nur für seine Regeneration gut gebrauchen konnte. Bereits in der Reha stellt er fest, dass es kein allgemeines Informationsportal zum Thema Behinderung gibt. Kurzerhand investiert er einen Teil seines Vermögens in die Gründung der Stiftung und die gleichnamige Internetseite MyHandicap. Das Internetportal informiert zu verschiedenen Aspekten des Lebens mit Behinderung: von medizinischen und psychologischen Fragen, über technische Hilfsmittel, rechtliche und wirtschaftliche Probleme bis hin zu Sport, Reisen und Partnerschaft. „Die Digitalisierung kann eine neue Behinderungsform fördern. Nämlich dann, wenn man digitale Produkte nicht (mehr) nutzen kann. Dann scheidet man aus der Gesellschaft aus.“ Als er bei einem Vortrag gefragt wird, ob er eher auf seine Beinprothese (die sein ganzes Bein ersetzt) oder sein Smartphone verzichten würde, muss er intensiv nachdenken. „Ich glaube, in der heutigen Welt kann man besser mit einem Bein und Smartphone leben, als mit zwei Beinen und ohne Smartphone.“
Zurück ins Jahr 1998: Die Gründungsjahre von Scout24 waren alles andere als einfach. „Auch wenn wir am Ende mit AutoScout24 und Immobilien-Scout24 natürliche Monopole schafften, der Anfang war alles andere als easy. Hat man kein Angebot, bleibt die Nachfrage aus. Fehlt die Nachfrage, bleibt das Angebot aus. Entsprechend mühsam gestaltete sich unsere Partnersuche. Denn 1998 verstanden weder Verleger noch Automobilpartner das Internet. Folglich groß war die Skepsis dem Konzept gegenüber und überheblich ihr Auftreten. Die größte Offenheit zeigte damals die Immobilienbranche.“ Auch war nicht klar, wer das Rennen um die Online-Marktplätze machen würde. Der Wettbewerbsvorteil von Scout24 war seinerzeit, nicht ausschließlich auf online zu setzen, sondern auch ein Callcenter zu betreiben. „Von den ersten 1.000 Anfragen gingen damals bestimmt 990 über unseren Callcenter ein. 30 Leute sorgten also für den Traffic der Anbieter. Ergänzend dazu hatten wir im Keller eine große Druckmaschine, um Exposés ausdrucken und an Interessenten per Post verschicken zu können.“
„Das beste Angebot, was wir damals bekommen haben, war von einem Verleger“
Dass niemand ein Investitionsinteresse an Scout24 hatte, war rückblickend ein Riesenglück. „Das beste Angebot, was wir damals bekommen haben, war von einem Verleger, der gern die Mehrheit von 51 Prozent zum nominalen Betrag erwerben wollte – mit dem freundlichen Angebot, uns gewähren zu lassen. Nicht mit dem Angebot, uns sein Kleinanzeigengeschäft zu geben.“ Hätte sich das Start-up seinerzeit mit nur einem einzigen Verleger zusammengetan, hätten sie vor allem in Deutschland nicht diese Entwicklung gemacht. Auch hätten die Konflikte zwischen etablierten Unternehmen und Start-ups die Entwicklung von Scout24 enorm gebremst. „Ich kann Start-ups daher nur raten, sich nicht zu früh mit strategischen Partnern zu verbünden.“
Start-ups sind die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen unserer Wirtschaft: Sie produzieren Phänomene, die große Organisationen vor enorme Herausforderungen stellt. Sie entdecken neue Märkte, die Konzernen fremd sind. Sie sind agil, verzichten auf klassische Unternehmensprozesse und -abläufe, agieren fern von klassischen Marktregeln. Wenn etablierte Unternehmen und Start-ups wie Feuer und Wasser sind, verwundert es nicht, dass es unglaublich schwierig ist, diese zwei Kulturen zusammenzubringen. „Ich habe viel Zeit in Unternehmen und Start-ups verbracht. Ich kenne beide Kulturen also sehr gut. Die Start-up-Mentalität in etablierte Unternehmen hereinzubringen, ist sehr schwer. Als Unternehmer einer etablierten Organisation trage ich die Verantwortung, den vorhandenen Wert zu schützen.“
„Um zu disruptieren, muss ich von der Persönlichkeitsstruktur ein Revoluzzer sein“
Und obwohl wir uns in einer Zeit mit hoher Veränderungsgeschwindigkeit befinden und viele Unternehmen aufpassen müssen, nicht das Kodak-Ende zu nehmen, gehört Disruption nicht zur Erwartungshaltung von Eigentürmern etablierter Unternehmen. Es gibt also die Notwendigkeit, sich mit der Disruption auseinanderzusetzen. „Um zu disruptieren, muss ich von der Persönlichkeitsstruktur ein Revoluzzer sein. Ich muss alles Alte hinterfragen, muss kritisieren, muss anzweifeln. Schaut man sich die Mentalität eines Start-up-Gründers an, erkennt man, er fängt bei null an. Er hat nichts zu verlieren, sondern muss stattdessen angreifen. Er muss Investoren eine möglichst große Geschichte erzählen. Er muss zeigen, wie umfangreich und bedeutungsvoll die Veränderung ist, die er mit seinem Start-up erreicht.“
Auf der einen Seite sind also die Start-up-Revoluzzer, die alles hinterfragen. Die jeden Stein umlegen und etwas komplett Neues bauen müssen, um für Investoren attraktiv zu sein. Auf der anderen Seite sind die Verantwortlichen etablierter Unternehmen, die schützen müssen, was da ist, und dementsprechend vorsichtig agieren. „In den meisten Branchen herrscht ein enormer Druck. Man hat vieles ausoptimiert, hat also kaum Handlungsspielraum. In dieser Situation fehlt Unternehmen die Freiheit, ein Team allein für die Disruption aufzustellen.“ Allerdings stehen auch Start-ups irgendwann vor Prozessen, in denen etablierte Unternehmen mehr Know-how haben. Dann sind etablierte Unternehmen Best Owner für Start-ups. Ein Nutzen für beide Seiten: Das Start-up profitiert von den Erfahrungen und Kontakten der etablierten Organisation. Die wiederum entwickelt durch die Zusammenarbeit eine Offenheit, nicht sofort mit Konzern-Instrumenten zu agieren – erst recht, wenn man später das Start-up in den Konzern integrieren möchte. Ist ein Start-up jedoch zeitgemäßer aufgestellt und erfüllt die Kundenbedürfnisse besser, kann ein radikaler, aber Erfolg versprechender Weg sein, das etablierte Geschäft ins Start-up zu integrieren. „Das sollte aber behutsam erfolgen. Etablierten Organisationen ihre DNA zu nehmen, kann ihr Geschäft ebenso gefährden, wie einen 25-Jährigen Start-up-Gründer zum CEO eines etablierten DAX-Konzerns zu machen.“
Erfolgreiche Unternehmer glauben, Herr ihres Schicksals zu sein. Wer immer anderen die Schuld gibt, nie um Ausreden verlegen ist, sollte daher