Wahlanalyse 2017. Mario Voigt
Bundesländern mithin ebenso unterrepräsentiert wie der Postmaterialismus.
Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt vom März 2016 ließ sich eine Regierung der beiden großen Konsensparteien nur mit Hilfe der Grünen bilden. Selbst eine solche Konstellation hätte im Ostteil diesmal nicht zu einer regierungsfähigen Mehrheit gereicht. Die Volksparteien sind im Osten nicht gut gelitten, wie nun wieder erkennbar, diesmal dramatisch. In keinem ostdeutschen Bundesland erzielten Union und SPD eine absolute Stimmenmehrheit, hingegen in jedem westdeutschen. Bereits im Wahlkampf waren vor allem in den neuen Bundesländern schrille Töne sogar gegen die aus dem Osten stammende (alte und wohl neue) Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erleben. Der Hauptvorwurf lautete, sie habe mit ihrer Politik der Willkommenskultur Fremden Tür und Tor geöffnet. Wutbürger sehen sich als Mutbürger. Der Erfolg der AfD zeichnete sich zwar ab, aber nicht in dieser drastischen Form. Manch einer bekundete sein Votum zu dieser in der Öffentlichkeit wenig angesehenen Partei nicht, mehr im Westen als im Osten beobachtbar. Ist ein solches Meinungsklima für eine offene Gesellschaft zuträglich und ein Zeichen der Liberalität? Bürger in den neuen Bundesländern legen, u. a. dank der von ihnen errungenen friedlichen Revolution, größere Unbefangenheit an den Tag. Paradox genug: Obwohl die AfD im Osten prinzipiell radikaler auftritt, ist ihr „Schmuddelimage“ hier nicht so ausgeprägt wie im Westen.
Ursachen für das unterschiedliche Wahlverhalten
Die Gründe für das überraschende Wahlverhalten sind teils struktureller, teils situativer Natur. Im ersten Fall gehen sie auf die Zeit vor der Vereinigung zurück, im zweiten auf die Zeit danach. Ostdeutsche sind aufgrund geringerer Kontakte mit Fremden in der Vergangenheit tendenziell weniger weltoffen. Sie fühlen sich zuweilen als Bürger zweiter Klasse, und das nicht nur aufgrund anhaltender ökonomischer Nachteile. Ihre Lebensleistung des letzten Vierteljahrhunderts (Wechsel des Berufs, Integration in ein gänzlich neues System) erfahre unzureichende Würdigung, so das verbreitete Credo. Dass viele Westdeutsche im Osten Leitungspositionen bekleiden, provoziert mitunter Groll, sogar Bitternis.
Die sozioökonomische und die soziokulturelle Konfliktlinie prägen gleichermaßen das Wahlverhalten. Dabei machen Die Linke wie die AfD als Vertreter des linken und rechten Populismus in Deutschland erstaunlicherweise nicht die Extrempunkte aus: Bei der sozioökonomischen Konfliktlinie besetzt Die Linke zwar den einen Pol (mehr Staat), die AfD aber nicht den anderen (mehr Markt). Vielmehr tritt diese – zumal im Osten – sozialpopulistisch auf. Bei der soziokulturellen Konfliktlinie repräsentiert die AfD, wiederum vor allem im Osten, zwar den autoritären Pol, die Partei Die Linke jedoch laviert zwischen autoritären und libertären Werten. Das reicht im Osten, wo sie keineswegs an das Ideengut der 68er anknüpft, bis hin zu recht autoritär-rigiden Maximen. Das mag nicht zuletzt an der staatsliebenden Einstellung der Ostdeutschen liegen. Kein Zufall: Der einzige grüne Ministerpräsident ist in einem Westland beheimatet (Winfried Kretschmann, Baden-Württemberg), der einzige aus den Reihen der Partei Die Linke in einem Ostland (Bodo Ramelow, Thüringen). Die Grünen reüssieren im Osten daher nicht. Sie verloren hier bei einem ohnehin schon schwachen Ergebnis knapp (im Westen + 0,6 Punkte). Und die Wählerschaft der SPD schrumpft, vor allem in den neuen Bundesländern. Arbeiter hadern mit der teils kosmopolitischen Denkweise der Parteispitze, das ist auch in anderen Ländern wie Frankreich zu beobachten.
Wer den Vergleich zwischen den alten und den neuen Bundesländern heranzieht, will keine Ost-West-Spaltung kultivieren, sondern die Frage beantworten, ob das vereinigte Deutschland eine erweiterte Bundesrepublik ist oder im Kern eine neue. Das ist ein Politikum. Wer der ersten Position zuneigt, arbeitet eher Differenzen heraus, wer die zweite präferiert, stärker Gemeinsamkeiten. Trotz vieler Unterschiede mit Blick auf das Wahlverhalten springen ebenso Parallelen ins Auge: Es rumort in beiden Landesteilen, gleichwohl dominiert die Partei Angela Merkels seit 2009 hier wie da, wenngleich nun auf einem niedrigeren Niveau. Nicht einmal jeder Dritte hat sie noch gewählt.
Und was oft nicht zur Sprache kommt: Deutschland besitzt auch ein Nord-Süd-Gefälle. Im stärker prosperierenden Süden dominieren rechte Positionen, im ökonomisch schwächeren Norden eher linke. Ost ist also nicht gleich Ost. So entfielen im südlichsten Westland Bayern auf CSU, AfD und FDP 61,2 Prozent, im südlichsten Ostland Sachsen 62,1 Prozent auf CDU, AfD und FDP. Insgesamt rückt das Parteiensystem mit dem Aufkommen der AfD und der Revitalisierung der Liberalen in die rechte Mitte. Nur im kleinsten Bundesland Bremen lag die SPD knapp vor der CDU.
Wiewohl der Westen in puncto höhere Volatilität und Abkehr von den Volksparteien dem Osten nachzueifern scheint, so führt die Schlussfolgerung: „Vorreiter Ost“ und „Nachzügler West“ in die Irre, besteht doch kein kausaler Zusammenhang. Es sind gesamtgesellschaftliche, nicht mit der deutschen Einheit erklärbare Prozesse. Wenn die Zahl der Mitglieder der beiden Volksparteien seit 1990 drastisch schrumpft (bei der SPD um mehr als die Hälfte, bei der CDU fast um die Hälfte), ist dies keine Reaktion auf eine erhöhte Parteiverdrossenheit im Osten. Da die Wählerschaft der AfD zu immerhin zwei Dritteln aus Protest gegen die Etablierten gestimmt hat und lediglich zu einem Drittel aus Überzeugung, können ihre Gewinne wie Flugsand verschwinden. Insofern ist Gelassenheit angesagt, nicht alarmistische Aufgeregtheit. Die Linke, die mittlerweile als etabliert gilt und daher weniger als Alternative zur AfD in Frage kommt, hat im Osten 4,9 Punkte eingebüßt, im Westen hingegen 1,8 Punkte zugelegt.
Das Ende der Bundestagswahl bedeutet den Anfang der Regierungsbildung. Dabei kommen zwei Varianten in Frage: entweder Schwarz-Rot (die Große Koalition verfügt über 53,5 Prozent der Stimmen) oder Schwarz-Gelb-Grün (das „Jamaika“-Bündnis erreicht 52,6 Prozent). Diese Koalitionsvariante, die weitaus wahrscheinlichere, weil die SPD, staatspolitisch wenig verantwortungsvoll, entschlossen in die Opposition strebt, ohne Schnittmengen mit der Union auszuloten, würde im Osten bei einem Stimmenanteil von 40,1 Prozent wenig Zustimmung erfahren. Alle drei Parteien (mit der CSU: vier) plädieren für „weniger Staat“, wohingegen in den neuen Bundesländern gerade der Paternalismus grassiert, sei es wegen der aus der Vergangenheit stammenden Versorgungsmentalität, sei es wegen der als unzureichend empfundenen Angleichung an den Westen. Im Osten überlagert Gleichheitsdenken immer noch Freiheitsdenken.
Der Text ist die erweiterte Fassung eines Beitrages, der in der Neuen Zürcher Zeitung (3. Oktober 2017, S. 6) erschienen ist, und zwar unter dem folgenden Titel: Vereint und doch gespalten. Die Bundestagswahl hat gezeigt: Auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung geht durch Deutschland ein politischer Graben.
Vorerst geschlossenes Zeitfenster für Rot-Rot-Grün
Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff
Obwohl rot-rot-grün zwischen 2013 und 2017 eine parlamentarische Mehrheit hatte, die sie nicht nutzte, war die elektorale Mehrheit bereits vor vier Jahren Mitte-Rechts. Diese Mehrheit liegt nun offen.
Bereits die Wahl vor vier Jahren war bemerkenswert: Es scheiterten nicht nur die Liberalen erstmals seit 1949 bei einer Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde, sondern ebenfalls knapp die AfD. Deshalb entfielen niemals zuvor in der Bundesrepublik so viele abgegebene Wahlstimmen auf Parteien, die dann nicht im Bundestag vertreten waren. Die Wahlbeteiligung eingerechnet, repräsentierte der 18. Deutsche Bundestag nur 59,5 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland. Lässt man die 5-Prozent-Hürde außer Betracht, vereinten die Unionsparteien (41,5 Prozent) gemeinsam mit FDP (4,8 Prozent) und AfD (4,7 Prozent) eine Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern.
Die SPD (25,7 Prozent), LINKE (8,6 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (8,4 Prozent) erreichten gemeinsam gerade einmal 42,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, verfügten jedoch über eine rechnerische parlamentarische Mehrheit (320 Mandate), von der sie genau einmal (!) Gebrauch machten: Im Sommer 2017 bei der Durchsetzung der sogenannten Ehe für alle. Ein solcher Umstand, dass mit etwas mehr als 42 Prozent die praktische Option einer parlamentarischen Regierungsmehrheit entsteht, wird auf absehbare Zeit nicht mehr eintreten. Damit schließt sich ein günstiges Zeitfenster für rot-rot-grün. Im künftigen 19. Deutschen Bundestag werden erstmals seit der Bundestagswahl vom 6. September 1953 wieder sieben Parteien im Parlament vertreten sein.
Der kurze Traum einer Normalisierung des Verhältnisses von SPD und Linkspartei