Herbstfeuer. Robert Ullmann
tun? Vermutlich einen anderen finden, der ihm die Informationen beschaffen sollte, die er begehrte. Warum wollte er überhaupt so dringend wissen, wo sich der Kommandant niedergelassen hatte? Timmrin würde es wohl nie erfahren, dachte er.
Sie verging quälend hier die Zeit. Die Minuten wurden zu Stunden. Es war ein Gefühl, das ihn an die Arbeit in der Fabrik erinnerte, nur schlimmer. Wie oft hatte er sich eine kleine Pause so sehnlich gewünscht, nur einen Augenblick, in dem er seine Hände und Finger ausruhen konnte, einen einzigen Augenblick des Nichtstuns. In diesem Moment aber hätte er alles gegeben, um nur eine einzige Papierhülse mit Pulver füllen und versiegeln zu dürfen. Schließlich legte er sich wieder auf die Pritsche um seinen Gedanken nachzugehen, Gedanken, wie sie einem alten Mann in den Sinn kommen mussten, der auf dem Sterbebett lag. Bereits am nächsten Tag brachten sie ihn ins Gerichtsgebäude auf der anderen Seite der Straße. Timmrin hatte nicht viel zu sagen, außer, dass er den Orden gefunden hatte. Dass sein ehemaliger Vorarbeiter damals bei der Arbeit, wie auch auf der Straße vor der Gastwirtschaft auf ihn eingeschlagen und ihm schließlich keine andere Wahl gelassen hatte, als das Messer zu ziehen. Aber diese Argumente blieben unberücksichtigt. Das Urteil schien schon gefällt, bevor die Verhandlung begonnen hatte: Als Totschläger, Aufrührer und Hochstapler sollte er am kommenden Sonntag mit drei anderen Rebellen am Troil-Brewek-Platz durch das lange Schwert den Tod finden.
-6-
Es war ein klarer, sonniger Novembertag. Timmrin blickte durch das kleine vergittere Kellerfenster. Es war der Tag der Hinrichtung. Sanfte Melancholie, gutmütige Trauer war an den Platz der Verzweiflung und Ohnmacht getreten. Als er die schweren Schritte nahender Soldaten hörte, schlug sein Herz jedoch schneller, bis es raste.
Die Zellentür wurde geöffnet. „Wir bringen dich zum Platz“, sagte der Hauptmann. „Legt ihm die Eisen an.“
Timmrin folgte den Männern widerstandslos. Draußen schien die Sonne ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Er spürte ihre Strahlen auf der Haut, wie er sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Jeden Atemzug der kühlen, klaren Luft des nahenden Winters atmete er tief in sich hinein. Er würde bald kommen, der Winter. Er würde die Dächer der Häuser mit Schnee bedecken, wo jetzt Raureif lag. Er würde übers Land kommen, dieses Jahr sicher strenger, weil der letzte Winter recht mild gewesen war. Ja, der Winter würde bald kommen, ob Timmrin noch da war oder nicht.
Bald würde man ihn mit dem Schwert töten. Ob sie ihm letzte Worte gewährten oder nicht, blieb sich gleich.
Der Weg war kürzer als erwartet. Auf dem Platz war eine große Tribüne. Der Henker in schwarzer Kutte, Kapuze und Maske wartete schweigend.
Auf der Tribüne standen noch drei andere Männer. Timmrin konnte sehen, dass einer an der Hand verbunden war. Der mittlere schien unversehrt und der dritte hatte einen schmutzigen Verband um den Oberschenkel gewickelt. Sein ganzes Hosenbein war mit eingetrocknetem Blut getränkt.
Als Timmrin an ihm hinauf sah und sein Gesicht erkannte, erschrak er. Es war Torek.
Die Soldaten beschleunigten ihre Schritte und schoben Timm grob die Treppen auf den Podest hinauf. „Torek!“, rief er zu seinem Onkel hinüber, der am anderen Ende der Reihe der Delinquenten stand. Als Timmrin aber in seine Augen sah, merkte er, dass es seinem Onkel großen Kummer bereitete, ihn zu sehen: ein Kummer, auf den Torek nicht gefasst zu sein schien und ihm diesen Augenblick noch hundertmal schlimmer erscheinen lassen musste.
„Timmrin“, sagte er leise, aber so, dass ihn sein Neffe hören konnte. „Ich hatte gehofft, du wärst entkommen…“
„Das war ich auch, aber sie haben mich schließlich erwischt. Mach dir nichts draus, Onkel! Wir sind vielleicht die letzten Adoms hier in Ersthafen. Aber wir sterben für eine höhere Sache.“
Onkel Torek antwortete nicht, sah nicht einmal mehr zu Timmrin hinüber. Dessen Worte schienen ihm nicht den geringsten Trost zu spenden. Nein, es schien eher, als würde er sich auch jetzt noch, obwohl er seinen Neffen hier gesehen hatte, einreden wollen, dass es ihm gut gehe und dass er überleben würde. Torek schloss die Augen.
Jetzt begann Timmrin zu zittern, sein Herz raste. Die Anklage wurde verlesen, aber er bekam kein Wort davon mit. Er bekam Panik, sah sich um, dachte darüber nach, vom Podest zu springen und in die Menge zu rennen.
Die Tribüne war von Gardisten umringt. An den Längsseiten, vorn und hinten, waren je 10, an den Seiten sechs Mann im Rechteck aufgestellt. Die Anklage wurde von niemand geringerem verlesen als Tarjeff von Tarzo, dem Anführer der Stadt- und Heimatgarde.
Timmrin wusste, dass es gleich soweit sein musste.
„…Das Urteil, der Tod durch das lange Schwert, wird hier und heute vollstreckt“, endete die Urteilsverkündung.
Timmrin nahm in den kommenden Augenblicken alles noch realer war, noch intensiver. Sein Blick wurde schärfer und glitt durch die Menge der Zuschauer. Die meisten waren in Gehröcke gehüllt, trugen Zylinder, Dreispitze und andere Hüte. Viele hatten sich auch in lange Kutschermäntel geworfen, Samt- oder Lederhandschuhe kleideten viele Hände. Auch die Frauen trugen zumeist Mäntel. Nur wenige hatten trotz der Kälte ihre ausladenden, aufwendig geschnittenen Kleider aus feiner Baumwollte oder gar Seide an. Die wenigen einfacher gekleideten Leute unter den Zuschauern stachen geradezu aus der Menge hervor.
Vor allem viel Timmrin ein Mann auf, der einen langen, grauen Umhang trug. Timmrin kannte diesen Umhang! Seine blanken, hohen Lederstiefel passten nicht zum Rest seiner Kleidung. Seine Handschuhe waren fingerlos und aus robustem, dickem Leder. Ihre Griffflächen waren abgenutzt. Timmrin konnte das erkennen, weil der Mann in der ersten Reihe stand. Er trug eine Augenbinde und einen Orden am Umhang. Seine schulterlangen, ergrauten Haare hingen ihm wild ins Gesicht. Timmrin erkannte ihn: Es war Skhat! Sein Erscheinungsbild hatte er außerdem dahingehend verändert, dass er eine Krücke unter dem rechten Arm trug und sein Bein wie taub hängen ließ. Timmrin konnte erkennen, dass es arbeitete hinter der Stirn des alten Mannes. Was aber hatte er vor?
Jetzt packte der Henker Torek und riss ihn brutal zu sich, gerade so, wie man es mit einem Schlachtvieh machen würde. Dann trat er ihm in die Kniekehle, so dass er auf die Knie zusammensackte. Ein Raunen ging durch die Menge.
„Tu deine Pflicht!“, befahl ihm Tarjeff überflüssig.
Warum ausgerechnet Torek? Timmrin hatte gehofft, dass der Henker die Reihe von der anderen Seite anfing, sodass er als erster sterben würde. Nun sah es ganz so aus, als müsste er zuerst zusehen, wie seine Kameraden enthauptet würden – eine Tatsache, die ihm das Strafmaß um ein vielfaches schlimmer erscheinen ließ.
„Hast du noch irgendetwas zu sagen?“, hörte Timmrin den Henker teilnahmslos fragen.
„Nein“, entgegnet Torek leise und kraftlos.
„Bist du bereit?“
„Ja.“
Torek legte langsam und zitternd seinen Kopf auf die hölzerne Vorrichtung. Vereinzelte Grüppchen aus der Menge begannen zu johlen. Hier und da rief man eine Beschimpfung.
Dann holte der Henker aus, aber sein Richtschwert sauste nicht hernieder.
Wie von einer unsichtbaren Kraft, einem übernatürlich starken Windstoß erfasst, wurde sein Körper zur Seite geworfen und schlug hart auf den Dielen des Podestbodens auf. Gleichzeitig krachte ein Schuss.
Die Soldaten zuckten zusammen, sahen sich um. Die Zuschauer, vor allem die Damen, begannen zu kreischen. Tarjeff war in die Hocke gegangen und hielt die Arme vors Gesicht. Die Soldaten spähten in alle Richtungen nach dem Schützen. Sie wussten, dass es einige Sekunden dauern musste, bis der nächste Schuss viel, sofern es sich um einen Schützen handelte. Schon einen Augenblick später jedoch, krachte der zweite Schuss. Die Kugel riss einem Soldaten das Bein vom Boden, sodass er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Der Mann ächzte und drückte mit beiden Händen auf die blutende Wunde am Oberschenkel. Im selben Augenblick brüllte ein anderer: „Dort!“, und deutete auf das Dreiecksdach eines prunkvollen, hohen Gebäudes. Auch Tarjeff von Tarzo sah jetzt den Scharfschützen, wandte sich um und sprang von der Tribüne